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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

kahle in die Hölle hineinstürzt und selbst ein Teufel wird. Danken wir Gott,
daß er uns in der griechischen Kunst ein Heilmittel gegen diese Seelenkrankheit
bereitet hat!

Nicht also in der Sittlichkeit selbst liegt der Unterschied zwischen Althcllas
und dem Christentume, sondern in den religiösen Stützen des sittlichen Lebens.
Die christlichen Apologeten haben vollkommen Recht, wenn sie darauf hin¬
weisen, wie wenig die Liebesgeschichten und Händel der Götter geeignet waren,
den frommen Verehrer zu bessern und zu erheben, während die christliche
Dreieinigkeit in der Seele ihres Anbeters nur würdige und erhebende Vor¬
stellungen erregt. Doch sollte man die entsittlichende Wirkung der Mytho¬
logie nicht in dem Grade übertreiben, wie es gewöhnlich geschieht. Nur der
grübelnde Philosoph verfiel darauf, daß aus deu Göttergeschichten gefährliche
Folgerungen abgeleitet werden könnten, und unter den Tragikern ist es nur
der philosophisch gebildete Euripides, der solche Erwägungen anstellt. Dem
gemeinen Manne blieben die Ehebruche der Götter Mysterien, über die er
nicht weiter nachdachte; ihm waren die Götter der Hauptsache uach nicht allein
Spender aller guten Gaben, sondern trotz aller Widersprüche in ihrem Cha¬
rakter auch die Rächer alles Bösen. Es waren immer nur einzelne freche
Vnrschen, die vor einem Lcdabilde sagten: "Zeus selber hat Ehebruch ver¬
übt, und ich Menschlein sollte besser sein als er?" Die Masse ließ sich durch
solche Widersprüche in der Volksreligion so wenig irre machen, wie unser heutiges
Volk, soweit es noch nicht von der Gedankengährung der gebildeten Stände
ergriffen ist, durch die bedenklichen Erzählungen des Alten Testaments. Sind
doch auch nicht alle Thaten des Heilands zur Nachahmung geeignet. Und
zwar hat diese unbefangne, unbeirrte Gläubigkeit, wie Friedländer in seiner
römischen Sittengeschichte nachweist, bis in die letzten Zeiten des antiken
Heidentums, bis zur Völkerwanderung fortgedauert. Andrerseits darf nicht
übersehen werden, daß es ja den Bewohnern Griechenlands und Italiens gar
nicht eingefallen ist, beim Übertritt zum Christentum ihren Olymp preiszugeben.
Sie haben ihn bekanntlich mitgenommen und den Hofstaat des dreieinigen
Gottes daraus gemacht. Von den drei göttlichen Personen ist es nur die
menschgcwordne, zu der sie ein näheres Verhältnis gewonnen haben; mit den
andern beiden, die sich nicht vollständig vermenschlichen lassen, wissen sie nicht
viel anzufangen.

Weit kräftiger als die reinere und einfachere Vorstellung von Gott wirkt
der feste Glauben an die persönliche Unsterblichkeit des Menschen; ja erst
hierdurch erlangt der gereinigte Gottesbegriff praktische Vedentnng. Die
Griechen glaubten nur an ein Schattendasein nach dem Tode, das eigentlich
nichts wert sei. Der ganze Wert des Daseins lag für sie im Diesseits.
Daraus folgte, daß, wenn es eine sittliche Weltordnung, eine göttliche Ge¬
rechtigkeit gäbe, sie sich unbedingt im irdischen Leben offenbaren und durch-


Die ätherische Volksmoral im Drama

kahle in die Hölle hineinstürzt und selbst ein Teufel wird. Danken wir Gott,
daß er uns in der griechischen Kunst ein Heilmittel gegen diese Seelenkrankheit
bereitet hat!

Nicht also in der Sittlichkeit selbst liegt der Unterschied zwischen Althcllas
und dem Christentume, sondern in den religiösen Stützen des sittlichen Lebens.
Die christlichen Apologeten haben vollkommen Recht, wenn sie darauf hin¬
weisen, wie wenig die Liebesgeschichten und Händel der Götter geeignet waren,
den frommen Verehrer zu bessern und zu erheben, während die christliche
Dreieinigkeit in der Seele ihres Anbeters nur würdige und erhebende Vor¬
stellungen erregt. Doch sollte man die entsittlichende Wirkung der Mytho¬
logie nicht in dem Grade übertreiben, wie es gewöhnlich geschieht. Nur der
grübelnde Philosoph verfiel darauf, daß aus deu Göttergeschichten gefährliche
Folgerungen abgeleitet werden könnten, und unter den Tragikern ist es nur
der philosophisch gebildete Euripides, der solche Erwägungen anstellt. Dem
gemeinen Manne blieben die Ehebruche der Götter Mysterien, über die er
nicht weiter nachdachte; ihm waren die Götter der Hauptsache uach nicht allein
Spender aller guten Gaben, sondern trotz aller Widersprüche in ihrem Cha¬
rakter auch die Rächer alles Bösen. Es waren immer nur einzelne freche
Vnrschen, die vor einem Lcdabilde sagten: „Zeus selber hat Ehebruch ver¬
übt, und ich Menschlein sollte besser sein als er?" Die Masse ließ sich durch
solche Widersprüche in der Volksreligion so wenig irre machen, wie unser heutiges
Volk, soweit es noch nicht von der Gedankengährung der gebildeten Stände
ergriffen ist, durch die bedenklichen Erzählungen des Alten Testaments. Sind
doch auch nicht alle Thaten des Heilands zur Nachahmung geeignet. Und
zwar hat diese unbefangne, unbeirrte Gläubigkeit, wie Friedländer in seiner
römischen Sittengeschichte nachweist, bis in die letzten Zeiten des antiken
Heidentums, bis zur Völkerwanderung fortgedauert. Andrerseits darf nicht
übersehen werden, daß es ja den Bewohnern Griechenlands und Italiens gar
nicht eingefallen ist, beim Übertritt zum Christentum ihren Olymp preiszugeben.
Sie haben ihn bekanntlich mitgenommen und den Hofstaat des dreieinigen
Gottes daraus gemacht. Von den drei göttlichen Personen ist es nur die
menschgcwordne, zu der sie ein näheres Verhältnis gewonnen haben; mit den
andern beiden, die sich nicht vollständig vermenschlichen lassen, wissen sie nicht
viel anzufangen.

Weit kräftiger als die reinere und einfachere Vorstellung von Gott wirkt
der feste Glauben an die persönliche Unsterblichkeit des Menschen; ja erst
hierdurch erlangt der gereinigte Gottesbegriff praktische Vedentnng. Die
Griechen glaubten nur an ein Schattendasein nach dem Tode, das eigentlich
nichts wert sei. Der ganze Wert des Daseins lag für sie im Diesseits.
Daraus folgte, daß, wenn es eine sittliche Weltordnung, eine göttliche Ge¬
rechtigkeit gäbe, sie sich unbedingt im irdischen Leben offenbaren und durch-


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[0607] Die ätherische Volksmoral im Drama kahle in die Hölle hineinstürzt und selbst ein Teufel wird. Danken wir Gott, daß er uns in der griechischen Kunst ein Heilmittel gegen diese Seelenkrankheit bereitet hat! Nicht also in der Sittlichkeit selbst liegt der Unterschied zwischen Althcllas und dem Christentume, sondern in den religiösen Stützen des sittlichen Lebens. Die christlichen Apologeten haben vollkommen Recht, wenn sie darauf hin¬ weisen, wie wenig die Liebesgeschichten und Händel der Götter geeignet waren, den frommen Verehrer zu bessern und zu erheben, während die christliche Dreieinigkeit in der Seele ihres Anbeters nur würdige und erhebende Vor¬ stellungen erregt. Doch sollte man die entsittlichende Wirkung der Mytho¬ logie nicht in dem Grade übertreiben, wie es gewöhnlich geschieht. Nur der grübelnde Philosoph verfiel darauf, daß aus deu Göttergeschichten gefährliche Folgerungen abgeleitet werden könnten, und unter den Tragikern ist es nur der philosophisch gebildete Euripides, der solche Erwägungen anstellt. Dem gemeinen Manne blieben die Ehebruche der Götter Mysterien, über die er nicht weiter nachdachte; ihm waren die Götter der Hauptsache uach nicht allein Spender aller guten Gaben, sondern trotz aller Widersprüche in ihrem Cha¬ rakter auch die Rächer alles Bösen. Es waren immer nur einzelne freche Vnrschen, die vor einem Lcdabilde sagten: „Zeus selber hat Ehebruch ver¬ übt, und ich Menschlein sollte besser sein als er?" Die Masse ließ sich durch solche Widersprüche in der Volksreligion so wenig irre machen, wie unser heutiges Volk, soweit es noch nicht von der Gedankengährung der gebildeten Stände ergriffen ist, durch die bedenklichen Erzählungen des Alten Testaments. Sind doch auch nicht alle Thaten des Heilands zur Nachahmung geeignet. Und zwar hat diese unbefangne, unbeirrte Gläubigkeit, wie Friedländer in seiner römischen Sittengeschichte nachweist, bis in die letzten Zeiten des antiken Heidentums, bis zur Völkerwanderung fortgedauert. Andrerseits darf nicht übersehen werden, daß es ja den Bewohnern Griechenlands und Italiens gar nicht eingefallen ist, beim Übertritt zum Christentum ihren Olymp preiszugeben. Sie haben ihn bekanntlich mitgenommen und den Hofstaat des dreieinigen Gottes daraus gemacht. Von den drei göttlichen Personen ist es nur die menschgcwordne, zu der sie ein näheres Verhältnis gewonnen haben; mit den andern beiden, die sich nicht vollständig vermenschlichen lassen, wissen sie nicht viel anzufangen. Weit kräftiger als die reinere und einfachere Vorstellung von Gott wirkt der feste Glauben an die persönliche Unsterblichkeit des Menschen; ja erst hierdurch erlangt der gereinigte Gottesbegriff praktische Vedentnng. Die Griechen glaubten nur an ein Schattendasein nach dem Tode, das eigentlich nichts wert sei. Der ganze Wert des Daseins lag für sie im Diesseits. Daraus folgte, daß, wenn es eine sittliche Weltordnung, eine göttliche Ge¬ rechtigkeit gäbe, sie sich unbedingt im irdischen Leben offenbaren und durch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/607>, abgerufen am 28.07.2024.