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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische volksmoral im Drama

Thuns aber nicht; ans lasser Trägheit einige,
Und andre wieder, weil sie irgend andre Lust
Vorziehn der Tugend.

Ganz ähnlich hat sich Augustinus ausgedrückt in der ersten Zeit, nachdem er
sich vom Manichnismus losgerungen hatte; niemand wähle das Böse um des
Bösen willen, sondern nnr durch den Schein eines Gutes getäuscht. Man
sieht, an Bemühungen, das furchtbare Geheimnis zu ergründen, haben es die
Alten nicht fehlen lassen; wie hätte ihnen gelingen können, was bis auf den
heutigen Tag niemandem gelungen ist?

Weiter sagt Döllinger: "Waren nun auch die tragischen Dichter die Nor-
stelluugen vom Schicksale zu veredeln beflissen, so brachte es das griechische
Bewußtsein doch zu keiner Theodicee, und mochte auch in einzelnen Momenten
die Idee einer ethischen Weltordnung blitzartig aus dem umgebenden Dunkel
des polytheistischen Mythen- und Götterwesens aufleuchten, so ward es gleich
wieder verfinstert und verunstaltet. Der Hauptgrund lag darin, daß den
Griechen ein lebendiger Begriff vom Wesen des Bösen, der Sünde und die
Einsicht in dessen Ursprung mangelte. Selbst die Sprache bot keine präzisen
Bezeichnungen für das moralisch Böse, die Sünde dar; dasselbe Wort galt
auch für das physische Übel, und ebenso wenig konnte das positiv Böse von
dem Schlechten oder Geringen sprachlich gesondert werden." Also die Griechen,
deren Einbildungskraft die Gestalten der Eumeniden geschaffen hat, sollen keinen
lebendigen Begriff von der Sünde gehabt haben? Wo findet man denn heute,
von einzelnen Personen und kleinen Konventikeln abgesehen, im Volke ein so
tiefes und lebhaftes Schuldbewußtsein, wie es nach dem Zeugnis der Orestes¬
tragödien bei den Alten geherrscht haben muß? Was Döllinger von den Be¬
zeichnungen sagt, ist doch nur Silbenstecherei. Auch der Deutsche spricht von
einem bösen Finger und einem bösen Fall, und auch der Franzose gebraucht
wÄuvg-is und raal, der Italiener Licktwo unterschiedslos für das physische und
das moralische Übel. Um aber das "positiv Böse" auszudrücken, muß auch
Döllinger das lateinische Beiwort "positiv" zu Hilfe nehmen, und ist auch so
noch nicht sicher, ob er allgemein wird verstanden werden. Ich meinerseits
denke mir unter dem positiv Bösen die teuflische Bosheit eines Menschen, in
dem der letzte Rest vou Liebe erstorben ist, und der keinen andern Genuß
keimt, als seinen Mitmenschen Leid zuzufügen. Aus der griechischen Geschichte
ist uns kein solches Ungeheuer bekannt, und so hatten die Griechen auch keine
Veranlassung, für das "Positiv Böse" eine besondre Bezeichnung zu erfinden.
Daß aber die "Einsicht in den Ursprung des Bösen," die das Christentum
gewährt, so gut wie keine Einsicht sei, habe ich schon ausgeführt. .

Einen Vorwurf allerdings sind der Puritaner und der katholische Asket
von ihrem Standpunkte aus gegen die Hellenen zu erheben berechtigt: daß
sie sich vom Schuldbewußtsein, wie lebhaft sie es auch in einzelnen geweihten


Die ätherische volksmoral im Drama

Thuns aber nicht; ans lasser Trägheit einige,
Und andre wieder, weil sie irgend andre Lust
Vorziehn der Tugend.

Ganz ähnlich hat sich Augustinus ausgedrückt in der ersten Zeit, nachdem er
sich vom Manichnismus losgerungen hatte; niemand wähle das Böse um des
Bösen willen, sondern nnr durch den Schein eines Gutes getäuscht. Man
sieht, an Bemühungen, das furchtbare Geheimnis zu ergründen, haben es die
Alten nicht fehlen lassen; wie hätte ihnen gelingen können, was bis auf den
heutigen Tag niemandem gelungen ist?

Weiter sagt Döllinger: „Waren nun auch die tragischen Dichter die Nor-
stelluugen vom Schicksale zu veredeln beflissen, so brachte es das griechische
Bewußtsein doch zu keiner Theodicee, und mochte auch in einzelnen Momenten
die Idee einer ethischen Weltordnung blitzartig aus dem umgebenden Dunkel
des polytheistischen Mythen- und Götterwesens aufleuchten, so ward es gleich
wieder verfinstert und verunstaltet. Der Hauptgrund lag darin, daß den
Griechen ein lebendiger Begriff vom Wesen des Bösen, der Sünde und die
Einsicht in dessen Ursprung mangelte. Selbst die Sprache bot keine präzisen
Bezeichnungen für das moralisch Böse, die Sünde dar; dasselbe Wort galt
auch für das physische Übel, und ebenso wenig konnte das positiv Böse von
dem Schlechten oder Geringen sprachlich gesondert werden." Also die Griechen,
deren Einbildungskraft die Gestalten der Eumeniden geschaffen hat, sollen keinen
lebendigen Begriff von der Sünde gehabt haben? Wo findet man denn heute,
von einzelnen Personen und kleinen Konventikeln abgesehen, im Volke ein so
tiefes und lebhaftes Schuldbewußtsein, wie es nach dem Zeugnis der Orestes¬
tragödien bei den Alten geherrscht haben muß? Was Döllinger von den Be¬
zeichnungen sagt, ist doch nur Silbenstecherei. Auch der Deutsche spricht von
einem bösen Finger und einem bösen Fall, und auch der Franzose gebraucht
wÄuvg-is und raal, der Italiener Licktwo unterschiedslos für das physische und
das moralische Übel. Um aber das „positiv Böse" auszudrücken, muß auch
Döllinger das lateinische Beiwort „positiv" zu Hilfe nehmen, und ist auch so
noch nicht sicher, ob er allgemein wird verstanden werden. Ich meinerseits
denke mir unter dem positiv Bösen die teuflische Bosheit eines Menschen, in
dem der letzte Rest vou Liebe erstorben ist, und der keinen andern Genuß
keimt, als seinen Mitmenschen Leid zuzufügen. Aus der griechischen Geschichte
ist uns kein solches Ungeheuer bekannt, und so hatten die Griechen auch keine
Veranlassung, für das „Positiv Böse" eine besondre Bezeichnung zu erfinden.
Daß aber die „Einsicht in den Ursprung des Bösen," die das Christentum
gewährt, so gut wie keine Einsicht sei, habe ich schon ausgeführt. .

Einen Vorwurf allerdings sind der Puritaner und der katholische Asket
von ihrem Standpunkte aus gegen die Hellenen zu erheben berechtigt: daß
sie sich vom Schuldbewußtsein, wie lebhaft sie es auch in einzelnen geweihten


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[0605] Die ätherische volksmoral im Drama Thuns aber nicht; ans lasser Trägheit einige, Und andre wieder, weil sie irgend andre Lust Vorziehn der Tugend. Ganz ähnlich hat sich Augustinus ausgedrückt in der ersten Zeit, nachdem er sich vom Manichnismus losgerungen hatte; niemand wähle das Böse um des Bösen willen, sondern nnr durch den Schein eines Gutes getäuscht. Man sieht, an Bemühungen, das furchtbare Geheimnis zu ergründen, haben es die Alten nicht fehlen lassen; wie hätte ihnen gelingen können, was bis auf den heutigen Tag niemandem gelungen ist? Weiter sagt Döllinger: „Waren nun auch die tragischen Dichter die Nor- stelluugen vom Schicksale zu veredeln beflissen, so brachte es das griechische Bewußtsein doch zu keiner Theodicee, und mochte auch in einzelnen Momenten die Idee einer ethischen Weltordnung blitzartig aus dem umgebenden Dunkel des polytheistischen Mythen- und Götterwesens aufleuchten, so ward es gleich wieder verfinstert und verunstaltet. Der Hauptgrund lag darin, daß den Griechen ein lebendiger Begriff vom Wesen des Bösen, der Sünde und die Einsicht in dessen Ursprung mangelte. Selbst die Sprache bot keine präzisen Bezeichnungen für das moralisch Böse, die Sünde dar; dasselbe Wort galt auch für das physische Übel, und ebenso wenig konnte das positiv Böse von dem Schlechten oder Geringen sprachlich gesondert werden." Also die Griechen, deren Einbildungskraft die Gestalten der Eumeniden geschaffen hat, sollen keinen lebendigen Begriff von der Sünde gehabt haben? Wo findet man denn heute, von einzelnen Personen und kleinen Konventikeln abgesehen, im Volke ein so tiefes und lebhaftes Schuldbewußtsein, wie es nach dem Zeugnis der Orestes¬ tragödien bei den Alten geherrscht haben muß? Was Döllinger von den Be¬ zeichnungen sagt, ist doch nur Silbenstecherei. Auch der Deutsche spricht von einem bösen Finger und einem bösen Fall, und auch der Franzose gebraucht wÄuvg-is und raal, der Italiener Licktwo unterschiedslos für das physische und das moralische Übel. Um aber das „positiv Böse" auszudrücken, muß auch Döllinger das lateinische Beiwort „positiv" zu Hilfe nehmen, und ist auch so noch nicht sicher, ob er allgemein wird verstanden werden. Ich meinerseits denke mir unter dem positiv Bösen die teuflische Bosheit eines Menschen, in dem der letzte Rest vou Liebe erstorben ist, und der keinen andern Genuß keimt, als seinen Mitmenschen Leid zuzufügen. Aus der griechischen Geschichte ist uns kein solches Ungeheuer bekannt, und so hatten die Griechen auch keine Veranlassung, für das „Positiv Böse" eine besondre Bezeichnung zu erfinden. Daß aber die „Einsicht in den Ursprung des Bösen," die das Christentum gewährt, so gut wie keine Einsicht sei, habe ich schon ausgeführt. . Einen Vorwurf allerdings sind der Puritaner und der katholische Asket von ihrem Standpunkte aus gegen die Hellenen zu erheben berechtigt: daß sie sich vom Schuldbewußtsein, wie lebhaft sie es auch in einzelnen geweihten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/605>, abgerufen am 28.07.2024.