Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.Die ätherische volksinoral i,n Drama etwas andres als eine Reihe schön klingender Worte? Daß da in Worten der Es ist richtig, die griechischen Tragiker lehren, teils mehr philosophisch,
Die ätherische volksinoral i,n Drama etwas andres als eine Reihe schön klingender Worte? Daß da in Worten der Es ist richtig, die griechischen Tragiker lehren, teils mehr philosophisch,
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Die ätherische volksinoral i,n Drama
etwas andres als eine Reihe schön klingender Worte? Daß da in Worten der
Schöpfer von aller Schuld an dem Schicksale der Geschöpfe rein gewaschen
wird, ist freilich richtig; aber wer versteht diese Worte? Wer versteht es, daß
Gott nicht die Ursache des sittlich Bösen und der ewigen Verdammnis der
ungeheuern Mehrzahl der Menschen sei, wenn er diese Welt schafft, obwohl
er vorher weiß, daß alles so kommen werde, wie es in Wirklichkeit gekommen
ist? Und bekennt sich nicht heute alles, was auf Wissenschaft Anspruch macht,
zum Determinismus? Natürlich ohne die allmächtige und unwiderstehliche Ur-
kraft in ein Jenseits fortwirken zu lassen, da man meint, es sei des Übels im
Diesseits schon gerade genug. Und wenn die Deterministen, teils aus Rück¬
sicht auf die löbliche Obrigkeit, teils weil sie aufrichtig ihre Mitmenschen lieben
und diese durch rücksichtslose Folgerichtigkeit zu schädige» fürchten, die mensch¬
liche Verantwortlichkeit retten wollen, sind da etwa die zu diesem Zweck auf¬
gewendeten scholastischen Künste mehr wert als die Kunststückchen, womit die
Theologen den Schöpfer von der Verantwortung für seine Kinder die Teufel
zu entlasten und alle Verantwortung für alles Unheil den Geschöpfen aufzu¬
bürden suchen?
Es ist richtig, die griechischen Tragiker lehren, teils mehr philosophisch,
daß eine allmächtige Notwendigkeit (heute nennt man sie das Kausalitätsgesetz)
Götter und Menschen beherrsche, teils mehr theologisch, daß die Götter die
Sterblichen verblendeten, um sie für ihre Zwecke zu gebrauchen; daß ins¬
besondre die Naturtriebe und die daraus entspringenden Leidenschaften unwider¬
stehlich seien. Als den Humor seine Liebe zu Antigone mit dein Vater ver¬
feindet, da singt der Chor zum Gott Eros: „Niemand kann dir entrinnen,
kein Unsterblicher, keiner aus der Menschen Tagcsgeschlecht; wen du fassest,
der raset. Reißest auch des gerechten Mannes Sinn zu kränkender Unbill
fort; hast auch jetzt den Hader erregt, welcher Vater und Sohn entzweite."
Und Jason schreibt alles, was Medeia für ihn gethan hat, der Gunst Aphro-
ditcns zu. Medeia selbst macht die Götter nicht so unbedingt für die eignen
Verbrechen verantwortlich. Sie müsse, spricht sie zu dem Pädagogen, not¬
wendigerweise das Schreckliche thun, das sie beschlossen habe: „Denn solches
hat ein Gott und mein verkehrter Sinn mir zugeteilt." Und in den Troerinnen
widerspricht Hekabe der Helena, die alles auf Aphrodite schieben möchte.
„O mache doch die Götter nicht zu Thoren, und beschönige nicht dein Ver¬
brechen! Mein Paris glänzte Göttern gleich an Wohlgestalt; dein Sinn, der
ihn erblickte, ward zur Kyprin." Einen Versuch, das Rätsel zu lösen, macht
Euripides im Hippolytus, indem er der Phädra die Worte in den Mund legt:
Nimmer glaub ich, daß aus angeborner Art
Der Mensch das Schlimmre wähle — ward so viele» doch
Einsicht des Rechten; sondern also seh ichs um:
Das Tugendhafte wissen und erkennen wir,
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