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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Anmerkungen zur Judenfrage

lehrreicher ist es, zu beobachten, wie das Bewußtsein eines körperlichen Mangels
auf das Selbstbewußtsein eiues Menschen überhaupt drückt. Wie ängstlich
achtet nicht jemand, dem auch nur ein Glied des kleinen Fingers fehlt, darauf,
Fremden die Hand nnr geschlossen zu zeige"! Und wie fassungslos und ver¬
legen wird nicht oft ein solcher Mensch, wenn jemand, dem dieser Mangel
unbekannt war, ihn unvermutet bei ihm entdeckt. Es muß schon ein sehr selb¬
ständiger Charakter sein, der das niederdrückende Gefühl eines körperlichen
Fehlers in jeder Lage übermüdet. Bei dem Juden kommt nun aber noch
hinzu, daß er offenbar weiß, wie er um seines Mangels willen von andern
Völkern verachtet wird. Ich wenigstens bin der Meinung, daß ein guter Teil
der Mißachtung, die der Europäer, besonders der Germane, und um den handelt
sichs ja hier, dem Juden entgegenbringt, ans Rechnung der zwar unbewußten,
darum aber um so gesundem Geringschätzung gegen Menschen kommt, die ihren
Leib von andern Menschen verstümmeln lassen- Wie sollte der Deutsche, dem
es für ehrlos galt, auch nur sein Haupthaar von fremder Hand berühren zu
lassen, nicht eine alt eingewurzelte Abneigung hegen gegen Verschnittene und
Beschnittene. Im Orient freilich wird noch manche Sitte geübt, vor der wir
Ekel empfinden.

Als man alle Sondergesetze gegen die Juden kurzweg aufhob, da hat man
übersehen, daß man damit den Juden mehr Freiheit einräumte, als die übrigen
Staatsbürger genießen. Man hätte zu den Juden sagen müssen: Gut, ihr
sollt mit uns leben als gleichberechtigte Bürger; dafür aber verlangen wir von
euch, daß ihr euch den allgemeinsten Vorschriften moderner Sitte und Sitt¬
lichkeit fügt, daß ihr ablegt, was von euern Gebräuchen in den Nahmen mo¬
derner Kultur nicht paßt. Daß aber der jüdische Taufakt mit unsern An¬
schauungen von persönlicher Freiheit und Würde durchaus nicht zu vereinen
ist, das muß auch der größte Judenfreund zugeben, wenn er die Frage un¬
parteiisch beantworten will. Man sage nicht, das sei ein religiöser Gebrauch,
den man nicht antasten dürfe. Man kann zwar bei den Juden Religion und
Nasse nicht trennen, weil sie von alters her mit einander verquickt sind; ich
lege deshalb auch gar keinen Wert darauf, zwischen rituellen und nationalen
Gebräuchen, zwischen Rassengemcinschaft und Religionsgemeinschaft der Juden
zu unterscheide". Mit wahrer Religion kann aber ein äußerlicher Vorgang
gar nichts zu thun haben; im Gegenteil, wenn die jüdische Religion ohne ihre
rituellen Gebräuche nicht bestehen könnte, so würde ich das als einen Beweis
ansehen, daß sie sich überlebt hat. Religion ist eine geistige Macht, und wenn
sie sich erst an körperliche Vorgänge klammert, so ist es mit ihrer Macht über
die Geister vorbei. Ich tan" mir auch nicht denken, daß das religiöse Gefühl
des Juden dadurch wesentlich vertieft würde, daß man ihn eines Teiles seines
Leibes beraubt. Gewiß würden die Juden ein großes Geschrei erheben, daß
sie in der Ausübung ihres Gottesdienstes gehindert "ut in ihrem Gewissen


Grenzboten III 1393 74
Anmerkungen zur Judenfrage

lehrreicher ist es, zu beobachten, wie das Bewußtsein eines körperlichen Mangels
auf das Selbstbewußtsein eiues Menschen überhaupt drückt. Wie ängstlich
achtet nicht jemand, dem auch nur ein Glied des kleinen Fingers fehlt, darauf,
Fremden die Hand nnr geschlossen zu zeige»! Und wie fassungslos und ver¬
legen wird nicht oft ein solcher Mensch, wenn jemand, dem dieser Mangel
unbekannt war, ihn unvermutet bei ihm entdeckt. Es muß schon ein sehr selb¬
ständiger Charakter sein, der das niederdrückende Gefühl eines körperlichen
Fehlers in jeder Lage übermüdet. Bei dem Juden kommt nun aber noch
hinzu, daß er offenbar weiß, wie er um seines Mangels willen von andern
Völkern verachtet wird. Ich wenigstens bin der Meinung, daß ein guter Teil
der Mißachtung, die der Europäer, besonders der Germane, und um den handelt
sichs ja hier, dem Juden entgegenbringt, ans Rechnung der zwar unbewußten,
darum aber um so gesundem Geringschätzung gegen Menschen kommt, die ihren
Leib von andern Menschen verstümmeln lassen- Wie sollte der Deutsche, dem
es für ehrlos galt, auch nur sein Haupthaar von fremder Hand berühren zu
lassen, nicht eine alt eingewurzelte Abneigung hegen gegen Verschnittene und
Beschnittene. Im Orient freilich wird noch manche Sitte geübt, vor der wir
Ekel empfinden.

Als man alle Sondergesetze gegen die Juden kurzweg aufhob, da hat man
übersehen, daß man damit den Juden mehr Freiheit einräumte, als die übrigen
Staatsbürger genießen. Man hätte zu den Juden sagen müssen: Gut, ihr
sollt mit uns leben als gleichberechtigte Bürger; dafür aber verlangen wir von
euch, daß ihr euch den allgemeinsten Vorschriften moderner Sitte und Sitt¬
lichkeit fügt, daß ihr ablegt, was von euern Gebräuchen in den Nahmen mo¬
derner Kultur nicht paßt. Daß aber der jüdische Taufakt mit unsern An¬
schauungen von persönlicher Freiheit und Würde durchaus nicht zu vereinen
ist, das muß auch der größte Judenfreund zugeben, wenn er die Frage un¬
parteiisch beantworten will. Man sage nicht, das sei ein religiöser Gebrauch,
den man nicht antasten dürfe. Man kann zwar bei den Juden Religion und
Nasse nicht trennen, weil sie von alters her mit einander verquickt sind; ich
lege deshalb auch gar keinen Wert darauf, zwischen rituellen und nationalen
Gebräuchen, zwischen Rassengemcinschaft und Religionsgemeinschaft der Juden
zu unterscheide». Mit wahrer Religion kann aber ein äußerlicher Vorgang
gar nichts zu thun haben; im Gegenteil, wenn die jüdische Religion ohne ihre
rituellen Gebräuche nicht bestehen könnte, so würde ich das als einen Beweis
ansehen, daß sie sich überlebt hat. Religion ist eine geistige Macht, und wenn
sie sich erst an körperliche Vorgänge klammert, so ist es mit ihrer Macht über
die Geister vorbei. Ich tan» mir auch nicht denken, daß das religiöse Gefühl
des Juden dadurch wesentlich vertieft würde, daß man ihn eines Teiles seines
Leibes beraubt. Gewiß würden die Juden ein großes Geschrei erheben, daß
sie in der Ausübung ihres Gottesdienstes gehindert »ut in ihrem Gewissen


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[0593] Anmerkungen zur Judenfrage lehrreicher ist es, zu beobachten, wie das Bewußtsein eines körperlichen Mangels auf das Selbstbewußtsein eiues Menschen überhaupt drückt. Wie ängstlich achtet nicht jemand, dem auch nur ein Glied des kleinen Fingers fehlt, darauf, Fremden die Hand nnr geschlossen zu zeige»! Und wie fassungslos und ver¬ legen wird nicht oft ein solcher Mensch, wenn jemand, dem dieser Mangel unbekannt war, ihn unvermutet bei ihm entdeckt. Es muß schon ein sehr selb¬ ständiger Charakter sein, der das niederdrückende Gefühl eines körperlichen Fehlers in jeder Lage übermüdet. Bei dem Juden kommt nun aber noch hinzu, daß er offenbar weiß, wie er um seines Mangels willen von andern Völkern verachtet wird. Ich wenigstens bin der Meinung, daß ein guter Teil der Mißachtung, die der Europäer, besonders der Germane, und um den handelt sichs ja hier, dem Juden entgegenbringt, ans Rechnung der zwar unbewußten, darum aber um so gesundem Geringschätzung gegen Menschen kommt, die ihren Leib von andern Menschen verstümmeln lassen- Wie sollte der Deutsche, dem es für ehrlos galt, auch nur sein Haupthaar von fremder Hand berühren zu lassen, nicht eine alt eingewurzelte Abneigung hegen gegen Verschnittene und Beschnittene. Im Orient freilich wird noch manche Sitte geübt, vor der wir Ekel empfinden. Als man alle Sondergesetze gegen die Juden kurzweg aufhob, da hat man übersehen, daß man damit den Juden mehr Freiheit einräumte, als die übrigen Staatsbürger genießen. Man hätte zu den Juden sagen müssen: Gut, ihr sollt mit uns leben als gleichberechtigte Bürger; dafür aber verlangen wir von euch, daß ihr euch den allgemeinsten Vorschriften moderner Sitte und Sitt¬ lichkeit fügt, daß ihr ablegt, was von euern Gebräuchen in den Nahmen mo¬ derner Kultur nicht paßt. Daß aber der jüdische Taufakt mit unsern An¬ schauungen von persönlicher Freiheit und Würde durchaus nicht zu vereinen ist, das muß auch der größte Judenfreund zugeben, wenn er die Frage un¬ parteiisch beantworten will. Man sage nicht, das sei ein religiöser Gebrauch, den man nicht antasten dürfe. Man kann zwar bei den Juden Religion und Nasse nicht trennen, weil sie von alters her mit einander verquickt sind; ich lege deshalb auch gar keinen Wert darauf, zwischen rituellen und nationalen Gebräuchen, zwischen Rassengemcinschaft und Religionsgemeinschaft der Juden zu unterscheide». Mit wahrer Religion kann aber ein äußerlicher Vorgang gar nichts zu thun haben; im Gegenteil, wenn die jüdische Religion ohne ihre rituellen Gebräuche nicht bestehen könnte, so würde ich das als einen Beweis ansehen, daß sie sich überlebt hat. Religion ist eine geistige Macht, und wenn sie sich erst an körperliche Vorgänge klammert, so ist es mit ihrer Macht über die Geister vorbei. Ich tan» mir auch nicht denken, daß das religiöse Gefühl des Juden dadurch wesentlich vertieft würde, daß man ihn eines Teiles seines Leibes beraubt. Gewiß würden die Juden ein großes Geschrei erheben, daß sie in der Ausübung ihres Gottesdienstes gehindert »ut in ihrem Gewissen Grenzboten III 1393 74

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/593>, abgerufen am 24.11.2024.