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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Anmerkungen zur Judenfrage

tismns einen sehr einfachen Ausweg: man werfe die Juden zum Lande hinaus,
dann sind wir mit unserm Volkstum allein, d. h. beinahe. Das Mittel ist
einfach und hat nur den Fehler, nicht mehr zeitgemäß zu sein, da es einen
Rückschritt in der Kultur bedeutet.-, Rußland freilich kann sich die Ausweisung
der Juden gestatten, denn Rußland weist jeden unbequemen Bürger aus dein
Lande, weit weg nach Sibirien. So möchten aber auch bei uns einer ge¬
waltsamen Austreibung der Juden andre Austreibungen folgen, die in dem
Programm der Antisemiten nicht vorgesehen sind. Ein berühmter Mediziner
in Leipzig hat einmal gesagt, ein Bein abzuschneiden, sei keine Kunst, aber ein
krankes Bein wieder gesund zu machen, darin zeige sich der Meister. In der
That, ein Mann, dem ein Bein abgeschnitten wurde, ist ein Krüppel, nicht
weil ihm ein Glied fehlt, das zum natürlichen Gebrauche doch nicht mehr
tauglich war, sondern weil es dem Arzt und seinem Körper nicht gelang, die
Krankheit zu überwinden und aus dem kranken Gliede ein gesundes zu machen.
Und wenn das deutsche Volk die Juden austriebe, so wäre es ein Krüppel,
nicht weil ihm eine Anzahl untauglicher Bürger fehlt, sondern weil es nicht
imstande war, eine Minderzahl untauglicher Bürger in brauchbare umzuwandeln.
Werfen wir denn andre Nationalitäten, werfen wir Polen, Dänen und Fran¬
zosen einfach aus dem Lande hinaus, wenn sie anfangen, uns unbequem zu
werden? Einzelne Schreier ja, und das mit Recht, aber die große Masse
suchen wir zu gcrmanisiren. Die Regierung freilich ist in ihrer Politik gegen
diese fremden Elemente schwankend, aber die Regierung ist nicht immer die
Trägerin der Zeitideen, und ihre schwächliche Haltung kann es Wohl ver¬
zögern, aber nicht hindern, daß alle Polen dereinst im deutschen Volke auf¬
gehen. Dasselbe aber muß auch mit den Juden geschehen, sie müssen Deutsche
werden, mit oder ohne ihren Willen. Denn das sind sie noch nicht, sie
mögen sagen, was sie wollen. Daß sie ihre staatsbürgerliche Pflicht so gut
thun wie andre, braucht man ihnen gar nicht zu bestreiten. Daß aber die
Juden, die bis in die jüngste Zeit herein eine Ausnahmestellung innehalten,
die Schmerzen und Freuden eines seit beinahe hundert Jahren um seine natio¬
nale Einheit ringenden Volks ungemindert mitempfunden haben sollten, daß
also in ihnen das Verlangen nach einem deutschen Vaterlnnde ebenso lebendig
sein sollte, wie in rein deutschen Staatsbürgern, das wäre eine Erscheinung,
die einzig dastünde in der Weltgeschichte.

Nun sagen die Antisemiten, es sei unmöglich, die Juden besser zu machen.
Das ist ja aber auch gar nicht nötig; gute Deutsche brauchen sie nicht zu
werden, wenn sie nnr erst Deutsche sind. Möge"? sie sich dann ruhig zu dem
Teil unsrer Volksgenossen schlagen, die wir als moralisch minderwertig be¬
zeichnen müssen; Verbrecher werden sie ja doch nicht samt und sonders werden.
Denn sollte es wirklich so weit gekommen sein, daß das deutsche Volk über¬
haupt nicht mehr imstande wäre, die Juden in sich aufzunehmen und ihre


Anmerkungen zur Judenfrage

tismns einen sehr einfachen Ausweg: man werfe die Juden zum Lande hinaus,
dann sind wir mit unserm Volkstum allein, d. h. beinahe. Das Mittel ist
einfach und hat nur den Fehler, nicht mehr zeitgemäß zu sein, da es einen
Rückschritt in der Kultur bedeutet.-, Rußland freilich kann sich die Ausweisung
der Juden gestatten, denn Rußland weist jeden unbequemen Bürger aus dein
Lande, weit weg nach Sibirien. So möchten aber auch bei uns einer ge¬
waltsamen Austreibung der Juden andre Austreibungen folgen, die in dem
Programm der Antisemiten nicht vorgesehen sind. Ein berühmter Mediziner
in Leipzig hat einmal gesagt, ein Bein abzuschneiden, sei keine Kunst, aber ein
krankes Bein wieder gesund zu machen, darin zeige sich der Meister. In der
That, ein Mann, dem ein Bein abgeschnitten wurde, ist ein Krüppel, nicht
weil ihm ein Glied fehlt, das zum natürlichen Gebrauche doch nicht mehr
tauglich war, sondern weil es dem Arzt und seinem Körper nicht gelang, die
Krankheit zu überwinden und aus dem kranken Gliede ein gesundes zu machen.
Und wenn das deutsche Volk die Juden austriebe, so wäre es ein Krüppel,
nicht weil ihm eine Anzahl untauglicher Bürger fehlt, sondern weil es nicht
imstande war, eine Minderzahl untauglicher Bürger in brauchbare umzuwandeln.
Werfen wir denn andre Nationalitäten, werfen wir Polen, Dänen und Fran¬
zosen einfach aus dem Lande hinaus, wenn sie anfangen, uns unbequem zu
werden? Einzelne Schreier ja, und das mit Recht, aber die große Masse
suchen wir zu gcrmanisiren. Die Regierung freilich ist in ihrer Politik gegen
diese fremden Elemente schwankend, aber die Regierung ist nicht immer die
Trägerin der Zeitideen, und ihre schwächliche Haltung kann es Wohl ver¬
zögern, aber nicht hindern, daß alle Polen dereinst im deutschen Volke auf¬
gehen. Dasselbe aber muß auch mit den Juden geschehen, sie müssen Deutsche
werden, mit oder ohne ihren Willen. Denn das sind sie noch nicht, sie
mögen sagen, was sie wollen. Daß sie ihre staatsbürgerliche Pflicht so gut
thun wie andre, braucht man ihnen gar nicht zu bestreiten. Daß aber die
Juden, die bis in die jüngste Zeit herein eine Ausnahmestellung innehalten,
die Schmerzen und Freuden eines seit beinahe hundert Jahren um seine natio¬
nale Einheit ringenden Volks ungemindert mitempfunden haben sollten, daß
also in ihnen das Verlangen nach einem deutschen Vaterlnnde ebenso lebendig
sein sollte, wie in rein deutschen Staatsbürgern, das wäre eine Erscheinung,
die einzig dastünde in der Weltgeschichte.

Nun sagen die Antisemiten, es sei unmöglich, die Juden besser zu machen.
Das ist ja aber auch gar nicht nötig; gute Deutsche brauchen sie nicht zu
werden, wenn sie nnr erst Deutsche sind. Möge«? sie sich dann ruhig zu dem
Teil unsrer Volksgenossen schlagen, die wir als moralisch minderwertig be¬
zeichnen müssen; Verbrecher werden sie ja doch nicht samt und sonders werden.
Denn sollte es wirklich so weit gekommen sein, daß das deutsche Volk über¬
haupt nicht mehr imstande wäre, die Juden in sich aufzunehmen und ihre


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[0588] Anmerkungen zur Judenfrage tismns einen sehr einfachen Ausweg: man werfe die Juden zum Lande hinaus, dann sind wir mit unserm Volkstum allein, d. h. beinahe. Das Mittel ist einfach und hat nur den Fehler, nicht mehr zeitgemäß zu sein, da es einen Rückschritt in der Kultur bedeutet.-, Rußland freilich kann sich die Ausweisung der Juden gestatten, denn Rußland weist jeden unbequemen Bürger aus dein Lande, weit weg nach Sibirien. So möchten aber auch bei uns einer ge¬ waltsamen Austreibung der Juden andre Austreibungen folgen, die in dem Programm der Antisemiten nicht vorgesehen sind. Ein berühmter Mediziner in Leipzig hat einmal gesagt, ein Bein abzuschneiden, sei keine Kunst, aber ein krankes Bein wieder gesund zu machen, darin zeige sich der Meister. In der That, ein Mann, dem ein Bein abgeschnitten wurde, ist ein Krüppel, nicht weil ihm ein Glied fehlt, das zum natürlichen Gebrauche doch nicht mehr tauglich war, sondern weil es dem Arzt und seinem Körper nicht gelang, die Krankheit zu überwinden und aus dem kranken Gliede ein gesundes zu machen. Und wenn das deutsche Volk die Juden austriebe, so wäre es ein Krüppel, nicht weil ihm eine Anzahl untauglicher Bürger fehlt, sondern weil es nicht imstande war, eine Minderzahl untauglicher Bürger in brauchbare umzuwandeln. Werfen wir denn andre Nationalitäten, werfen wir Polen, Dänen und Fran¬ zosen einfach aus dem Lande hinaus, wenn sie anfangen, uns unbequem zu werden? Einzelne Schreier ja, und das mit Recht, aber die große Masse suchen wir zu gcrmanisiren. Die Regierung freilich ist in ihrer Politik gegen diese fremden Elemente schwankend, aber die Regierung ist nicht immer die Trägerin der Zeitideen, und ihre schwächliche Haltung kann es Wohl ver¬ zögern, aber nicht hindern, daß alle Polen dereinst im deutschen Volke auf¬ gehen. Dasselbe aber muß auch mit den Juden geschehen, sie müssen Deutsche werden, mit oder ohne ihren Willen. Denn das sind sie noch nicht, sie mögen sagen, was sie wollen. Daß sie ihre staatsbürgerliche Pflicht so gut thun wie andre, braucht man ihnen gar nicht zu bestreiten. Daß aber die Juden, die bis in die jüngste Zeit herein eine Ausnahmestellung innehalten, die Schmerzen und Freuden eines seit beinahe hundert Jahren um seine natio¬ nale Einheit ringenden Volks ungemindert mitempfunden haben sollten, daß also in ihnen das Verlangen nach einem deutschen Vaterlnnde ebenso lebendig sein sollte, wie in rein deutschen Staatsbürgern, das wäre eine Erscheinung, die einzig dastünde in der Weltgeschichte. Nun sagen die Antisemiten, es sei unmöglich, die Juden besser zu machen. Das ist ja aber auch gar nicht nötig; gute Deutsche brauchen sie nicht zu werden, wenn sie nnr erst Deutsche sind. Möge«? sie sich dann ruhig zu dem Teil unsrer Volksgenossen schlagen, die wir als moralisch minderwertig be¬ zeichnen müssen; Verbrecher werden sie ja doch nicht samt und sonders werden. Denn sollte es wirklich so weit gekommen sein, daß das deutsche Volk über¬ haupt nicht mehr imstande wäre, die Juden in sich aufzunehmen und ihre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/588>, abgerufen am 24.11.2024.