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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

läßt. Der junge Mann zieht den dicken Burschen auf seinen Schoß und küßt
ihn ab. Die Schwester schaut ein Weilchen zu, dann reißt sie das Brüderlein
an sich und küßt weiter. Dann soll sich wieder der Liebhaber das Leitungs-
klümpchen, dann wieder die Schwester, und so fort, bis die Geschwister auf-
steigen.

Ein Doppelkupce, noch besser ein sogenannter Salonwagen, bietet eben
weit mehr Unterhaltung als ein ganz abgeschlossenes, und hat ein Kupee
vollends nur zwei schmale Fenster, so bildet es ein Gefängnis, in dem einem
angst wird. Alte Wagen mit solchen Gefängniszellen werden noch auf meh¬
reren österreichischen Bahnen benützt. Überhaupt sind ans der österreichischen
Stantsbahn die Wagen und die Einrichtungen (in manchen Zügen keine Ab¬
teilungen für Nichtraucher und selbst in Schnellzügen keine "Aborte") durch¬
schnittlich schlechter als bei uns. Auch die Fahrkartenrevisivneu, die kürzlich
in einem englischen Blatte verspottet worden sind, werden drüben noch eifriger
betrieben als bei uns. So lernt mau in Böhmen nicht allein den Tschechen,
sondern auch unserm Herrn Eisenbahnminister so manches Unrecht abbitten.
Was hat er nicht alles zu leiden von bösen Mäulern und Federn, der arme
Herr von Thielen! Das "leiden" ist freilich nur objektiv zu nehmen, da ihn
sein glückliches Temperament davor schützt, die Nadelstiche und Hiebe zu em¬
pfinden. Möge ihm der Himmel seine Ruhe und die Hornhaut seiner Seele
bewahren, und möge er sich damit vor seinem Kollegen von der Finanz so
erfolgreich schützen wie vorm Publikum; denn läßt er sich von dein umgarnen,
dann ists mit dem Reisen zu idealen Zwecken vollends vorbei; sind doch die
wenigen Narren, die sich darauf einlassen, allesamt aus billige ".Zusammen¬
stellbare" augewiesen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zur Reform des Religionsunterrichts.

Freunde der Religion und der
Jugend, die wissen, wie schwierig der Religionsunterricht an sich ist, und wie diese
Schwierigkeit durch die ungeheure geistige Gnhrung unsrer Zeit ins Unerträgliche
gesteigert wird, müssen jeden verständigen und wohlmeinenden Reformvorschlag will¬
kommen heißen. Einen recht radikalen enthält das Buch: Das Jud enchristen-
tnm in der religiösen Volkserziehung des deutschen Protestantismus von
einem christlichen Theologen. (Leipzig, Fr. Will). Grunow, 1893.) Wenn wo
die Hauptförderungen des Verfassers: Beseitigung des Alten Testaments und des
Kleinen Katechismus von Luther ans dem Religionsunterrichte verraten, so wird
der Leser zunächst vermuten, er habe es mit einem fanatische" Antisemiten zu thun,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

läßt. Der junge Mann zieht den dicken Burschen auf seinen Schoß und küßt
ihn ab. Die Schwester schaut ein Weilchen zu, dann reißt sie das Brüderlein
an sich und küßt weiter. Dann soll sich wieder der Liebhaber das Leitungs-
klümpchen, dann wieder die Schwester, und so fort, bis die Geschwister auf-
steigen.

Ein Doppelkupce, noch besser ein sogenannter Salonwagen, bietet eben
weit mehr Unterhaltung als ein ganz abgeschlossenes, und hat ein Kupee
vollends nur zwei schmale Fenster, so bildet es ein Gefängnis, in dem einem
angst wird. Alte Wagen mit solchen Gefängniszellen werden noch auf meh¬
reren österreichischen Bahnen benützt. Überhaupt sind ans der österreichischen
Stantsbahn die Wagen und die Einrichtungen (in manchen Zügen keine Ab¬
teilungen für Nichtraucher und selbst in Schnellzügen keine „Aborte") durch¬
schnittlich schlechter als bei uns. Auch die Fahrkartenrevisivneu, die kürzlich
in einem englischen Blatte verspottet worden sind, werden drüben noch eifriger
betrieben als bei uns. So lernt mau in Böhmen nicht allein den Tschechen,
sondern auch unserm Herrn Eisenbahnminister so manches Unrecht abbitten.
Was hat er nicht alles zu leiden von bösen Mäulern und Federn, der arme
Herr von Thielen! Das „leiden" ist freilich nur objektiv zu nehmen, da ihn
sein glückliches Temperament davor schützt, die Nadelstiche und Hiebe zu em¬
pfinden. Möge ihm der Himmel seine Ruhe und die Hornhaut seiner Seele
bewahren, und möge er sich damit vor seinem Kollegen von der Finanz so
erfolgreich schützen wie vorm Publikum; denn läßt er sich von dein umgarnen,
dann ists mit dem Reisen zu idealen Zwecken vollends vorbei; sind doch die
wenigen Narren, die sich darauf einlassen, allesamt aus billige „.Zusammen¬
stellbare" augewiesen.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Zur Reform des Religionsunterrichts.

Freunde der Religion und der
Jugend, die wissen, wie schwierig der Religionsunterricht an sich ist, und wie diese
Schwierigkeit durch die ungeheure geistige Gnhrung unsrer Zeit ins Unerträgliche
gesteigert wird, müssen jeden verständigen und wohlmeinenden Reformvorschlag will¬
kommen heißen. Einen recht radikalen enthält das Buch: Das Jud enchristen-
tnm in der religiösen Volkserziehung des deutschen Protestantismus von
einem christlichen Theologen. (Leipzig, Fr. Will). Grunow, 1893.) Wenn wo
die Hauptförderungen des Verfassers: Beseitigung des Alten Testaments und des
Kleinen Katechismus von Luther ans dem Religionsunterrichte verraten, so wird
der Leser zunächst vermuten, er habe es mit einem fanatische» Antisemiten zu thun,


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[0579] Maßgebliches und Unmaßgebliches läßt. Der junge Mann zieht den dicken Burschen auf seinen Schoß und küßt ihn ab. Die Schwester schaut ein Weilchen zu, dann reißt sie das Brüderlein an sich und küßt weiter. Dann soll sich wieder der Liebhaber das Leitungs- klümpchen, dann wieder die Schwester, und so fort, bis die Geschwister auf- steigen. Ein Doppelkupce, noch besser ein sogenannter Salonwagen, bietet eben weit mehr Unterhaltung als ein ganz abgeschlossenes, und hat ein Kupee vollends nur zwei schmale Fenster, so bildet es ein Gefängnis, in dem einem angst wird. Alte Wagen mit solchen Gefängniszellen werden noch auf meh¬ reren österreichischen Bahnen benützt. Überhaupt sind ans der österreichischen Stantsbahn die Wagen und die Einrichtungen (in manchen Zügen keine Ab¬ teilungen für Nichtraucher und selbst in Schnellzügen keine „Aborte") durch¬ schnittlich schlechter als bei uns. Auch die Fahrkartenrevisivneu, die kürzlich in einem englischen Blatte verspottet worden sind, werden drüben noch eifriger betrieben als bei uns. So lernt mau in Böhmen nicht allein den Tschechen, sondern auch unserm Herrn Eisenbahnminister so manches Unrecht abbitten. Was hat er nicht alles zu leiden von bösen Mäulern und Federn, der arme Herr von Thielen! Das „leiden" ist freilich nur objektiv zu nehmen, da ihn sein glückliches Temperament davor schützt, die Nadelstiche und Hiebe zu em¬ pfinden. Möge ihm der Himmel seine Ruhe und die Hornhaut seiner Seele bewahren, und möge er sich damit vor seinem Kollegen von der Finanz so erfolgreich schützen wie vorm Publikum; denn läßt er sich von dein umgarnen, dann ists mit dem Reisen zu idealen Zwecken vollends vorbei; sind doch die wenigen Narren, die sich darauf einlassen, allesamt aus billige „.Zusammen¬ stellbare" augewiesen. Maßgebliches und Unmaßgebliches Zur Reform des Religionsunterrichts. Freunde der Religion und der Jugend, die wissen, wie schwierig der Religionsunterricht an sich ist, und wie diese Schwierigkeit durch die ungeheure geistige Gnhrung unsrer Zeit ins Unerträgliche gesteigert wird, müssen jeden verständigen und wohlmeinenden Reformvorschlag will¬ kommen heißen. Einen recht radikalen enthält das Buch: Das Jud enchristen- tnm in der religiösen Volkserziehung des deutschen Protestantismus von einem christlichen Theologen. (Leipzig, Fr. Will). Grunow, 1893.) Wenn wo die Hauptförderungen des Verfassers: Beseitigung des Alten Testaments und des Kleinen Katechismus von Luther ans dem Religionsunterrichte verraten, so wird der Leser zunächst vermuten, er habe es mit einem fanatische» Antisemiten zu thun,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/579>, abgerufen am 27.11.2024.