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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Reisegedanken und Reisebilder

gegen höre ich es gern, wenn es bloß Lungenübnng zum Zeitvertreib oder
Protest gegen die in den Herren Eltern oder im Kindermädchen verkörperte
Unvernunft der Wirklichkeit ist; das höre ich nämlich heraus oder bilde ich
mir wenigstens ein herauszuhören. Aufrichtige Freude bereitete mir der zu¬
nächst sitzende kleine Musikant. Er protestirte mit solcher Energie gegen die
unvernünftige Einschnürung in Betten, daß sich die Mama endlich gezwungen
sah, ihn unter Assistenz des mehr gehorsamen als geschickten Papas auf¬
zuwickeln, worauf er seine lauten Betrachtungen über die Unvernunft des Da¬
seins und über die schlechte Beschaffenheit der Eisenbahnwagen in milderer
Tonart fortsetzte und stellenweise mit Kundgebungen einer behaglichen Stim¬
mung unterbrach. Das wird einmal ein tüchtiger Oppositionsmann werden,
dachte ich stillvergnügt. Dem einen seiner beiden kleinen Kameraden mag
wohl mit der Stimme zugleich auch der Atem und das Bewußtsein aus¬
gegangen sein. Seine Mama nämlich, eine jugendliche Böhmakin, schwang
ihn, aufrecht und quer im Wagen stehend, mit bewundrungswürdiger Kraft¬
entwicklung und Ausdauer, unaufhörlich hoch und tief und lag diesem Geschäft
wohl eine Stunde lang ob: mit ernsthaftem Gesicht, wie es sich für ein so
ernsthaftes Geschäft geziemt, ohne rechts oder links zu schaun und ohne sich
um irgend etwas in der Welt zu kümmern, machte sie immer in dem gleichen,
sehr raschen Tempo die Bewegung des Sägers oder Pumpens.

Nicht minder unverdrossen unterhielt während dessen der gemütliche
Kaplan seine nähere Umgebung abwechselnd mit Scherzen und belehrenden
Reden, in meiner nächsten Nähe aber entspann sich das erste Kapitel eines
Romans. Ein Mädchen steigt mit ihrem*) kleine"? Bruder ein und setzt sich
dem neben mir sitzenden jungen Manne gegenüber. Von Zahnschmerz ge¬
plagt, hält sie sich die Wange. Der junge Mann holt aus seinem Koffer
ein Flüschchen hervor und reibt ihr mitleidig die Wange ein. Da ist der
Zahnschmerz wie weggeblasen, und es beginnt die heiterste Unterhaltung. Aber
der junge Mann soll sehen, was für eine tüchtige zukünftige Hausfrau die
Jungfrau ist, und wie sie keinen Augenblick unbenutzt läßt. Sie zieht einen
Korb voll Schoten hervor und fängt an, sie auszukernen. Der junge Mann
lernt mit. Sie sind sehr vertieft in diese Arbeit, und nicht selten stoßen bei
einem Ruck des Wagens ihre Stirnen zusammen. Nach etwa zwei Stunden
ist das Geschäft beendigt. Was nun vornehmen? Zum Reden scheinen die
Herzen zu voll zu sein. Der Blick des jungen Mannes fällt auf den sechs¬
jährigen Bruder des Mädchens. Es ist ein großer Bengel von der fetten,
faulen Art, die sichs möglichst bequem macht, sich gern räkelt und sich schönthnn



*) "Seinem" zu schreiben, kann ich mich schlechterdings nicht entschließen. Möchte doch
endlich einmal ein Sprachgewaltiger den Mädchen wieder zu ihrem Geschlechte verhelfen,
das sie verloren haben, seitdem sie weder Jungfrauen, noch Jungfern, noch Miigde mehr
sein wollen.
Reisegedanken und Reisebilder

gegen höre ich es gern, wenn es bloß Lungenübnng zum Zeitvertreib oder
Protest gegen die in den Herren Eltern oder im Kindermädchen verkörperte
Unvernunft der Wirklichkeit ist; das höre ich nämlich heraus oder bilde ich
mir wenigstens ein herauszuhören. Aufrichtige Freude bereitete mir der zu¬
nächst sitzende kleine Musikant. Er protestirte mit solcher Energie gegen die
unvernünftige Einschnürung in Betten, daß sich die Mama endlich gezwungen
sah, ihn unter Assistenz des mehr gehorsamen als geschickten Papas auf¬
zuwickeln, worauf er seine lauten Betrachtungen über die Unvernunft des Da¬
seins und über die schlechte Beschaffenheit der Eisenbahnwagen in milderer
Tonart fortsetzte und stellenweise mit Kundgebungen einer behaglichen Stim¬
mung unterbrach. Das wird einmal ein tüchtiger Oppositionsmann werden,
dachte ich stillvergnügt. Dem einen seiner beiden kleinen Kameraden mag
wohl mit der Stimme zugleich auch der Atem und das Bewußtsein aus¬
gegangen sein. Seine Mama nämlich, eine jugendliche Böhmakin, schwang
ihn, aufrecht und quer im Wagen stehend, mit bewundrungswürdiger Kraft¬
entwicklung und Ausdauer, unaufhörlich hoch und tief und lag diesem Geschäft
wohl eine Stunde lang ob: mit ernsthaftem Gesicht, wie es sich für ein so
ernsthaftes Geschäft geziemt, ohne rechts oder links zu schaun und ohne sich
um irgend etwas in der Welt zu kümmern, machte sie immer in dem gleichen,
sehr raschen Tempo die Bewegung des Sägers oder Pumpens.

Nicht minder unverdrossen unterhielt während dessen der gemütliche
Kaplan seine nähere Umgebung abwechselnd mit Scherzen und belehrenden
Reden, in meiner nächsten Nähe aber entspann sich das erste Kapitel eines
Romans. Ein Mädchen steigt mit ihrem*) kleine«? Bruder ein und setzt sich
dem neben mir sitzenden jungen Manne gegenüber. Von Zahnschmerz ge¬
plagt, hält sie sich die Wange. Der junge Mann holt aus seinem Koffer
ein Flüschchen hervor und reibt ihr mitleidig die Wange ein. Da ist der
Zahnschmerz wie weggeblasen, und es beginnt die heiterste Unterhaltung. Aber
der junge Mann soll sehen, was für eine tüchtige zukünftige Hausfrau die
Jungfrau ist, und wie sie keinen Augenblick unbenutzt läßt. Sie zieht einen
Korb voll Schoten hervor und fängt an, sie auszukernen. Der junge Mann
lernt mit. Sie sind sehr vertieft in diese Arbeit, und nicht selten stoßen bei
einem Ruck des Wagens ihre Stirnen zusammen. Nach etwa zwei Stunden
ist das Geschäft beendigt. Was nun vornehmen? Zum Reden scheinen die
Herzen zu voll zu sein. Der Blick des jungen Mannes fällt auf den sechs¬
jährigen Bruder des Mädchens. Es ist ein großer Bengel von der fetten,
faulen Art, die sichs möglichst bequem macht, sich gern räkelt und sich schönthnn



*) „Seinem" zu schreiben, kann ich mich schlechterdings nicht entschließen. Möchte doch
endlich einmal ein Sprachgewaltiger den Mädchen wieder zu ihrem Geschlechte verhelfen,
das sie verloren haben, seitdem sie weder Jungfrauen, noch Jungfern, noch Miigde mehr
sein wollen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/578>, abgerufen am 01.09.2024.