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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Reijegedanken und Reiselnlder

Vorhalle des Dogenpalastes in Venedig, in der äußern Verkleidung des Domes
zu Florenz, in deu Erzthüren von San Giovanni! Und nun der innere Schmuck
aller Kirchen und Paläste an Mosaiken, Skulpturen, Gemälden, Gerätschaften,
von dem jetzt das meiste und beste von seinem Ort fortgeschleppt und in Museen
aufgestapelt ist. Was wollen unsre heutigen Tapeten, auch die kostbarsten,
sagen gegen die Arcizzi oder Gobelins, mit denen die Reichen im fünfzehnten,
sechzehnten und siebzehnten Jcchrhnndert die Wände ihrer Prunksüle behängten!
Es ist der Gipfel eines edeln Luxus, die Wände mit einem weichen, warmen
Seideutuche zu verhüllen, das des Bilderschmucks nicht bedarf, weil es selbst
Gemälde ist. Und wie viel Monate, vielleicht Jahre geduldiger kunstverständiger
Arbeit mag ein einziges dieser gewaltig großen Tücher erfordert haben! In
welchen Massen sie aber angefertigt wurden, davon bekommt man wohl nur in
Florenz einen Begriff. Den ganzen Oberstock des Archäologischen Museums
nimmt die dortige Sammlung ein; eine schier endlose Flucht von Sälen und
Gängen ist mit den herrlichsten gewebten Gemälden -- nicht verschossenen, wie
die im Kuppelsale der Dresdner Gemäldegalerie, sondern meist wohlerhaltenen
und sarbenfrischen -- austapeziert.

Also die Arbeit von elf Millionen hat damals hingereicht, das Leben
außer mit dein notwendigen auch noch mit Schmuck der dauerhaftesten und
edelsten Art zu versehen, und heute reicht der Markt nicht hin, die dreißig
Millionen mit Arbeit zu versehen! Um aber die Bedeutung dieses Menschen¬
überschusses vollauf zu würdigen, muß man den Blick nach Osten wenden, wo
ein Land zu Grunde geht, weil es ihm an Menschen fehlt. Die Gutsbesitzer
Südrußlands, so lasen wir jüngst, fürchten dieses Jahr bankrott zu werde"
wegen -- der guten Ernte. Der reichliche Ernteausfall hat mehr Arbeiter,
daher mehr Geldkosten erfordert, aber der Erntesegen ist unverkäuflich. In der
Nähe giebts keine Städte, also keine Abnehmer. Den Absatz in die Ferne
hindert einerseits die Grenzsperre, anderseits der Mangel an Verkehrswegen,
an Eisenbahnen und Straßen. Weil Menschen, und namentlich weil geschickte
und gescheite, thätige und unternehmungslustige Menschen fehlen, darum bleibt
die volkswirtschaftlich notwendigste Arbeit umgethan, der Gottessegen ungenossen
und gehen die wenigen Menschen, die dort leben, zu Grunde! Also geschiehts
in einer Zeit, die angeblich "unter dem Zeichen des Verkehrs steht," und für
die, wenn sie nur will, die Entfernungen aufgehoben sind. O unbegreifliche
und ganz unerforschliche Weisheit der geheimrütlichen Vorsehung, der die Völker
Europas die Leitung ihrer Geschicke anvertraut haben!

Aber wo gerate ich hin! Tief in die Volkswirtschaft hinein und nach
Südrußland, das ich Gott sei Dank nicht nötig hatte zu besuchen. Dagegen
habe ich den guten Freunden und lieben Vettern der Russen, den Tschechen,
einen kurzen Besuch abgestattet, und dn ich diesem Volke gelegentlich böses
nachgesagt habe, so fühle ich mich verpflichtet, zu bekennen, daß es in der


Reijegedanken und Reiselnlder

Vorhalle des Dogenpalastes in Venedig, in der äußern Verkleidung des Domes
zu Florenz, in deu Erzthüren von San Giovanni! Und nun der innere Schmuck
aller Kirchen und Paläste an Mosaiken, Skulpturen, Gemälden, Gerätschaften,
von dem jetzt das meiste und beste von seinem Ort fortgeschleppt und in Museen
aufgestapelt ist. Was wollen unsre heutigen Tapeten, auch die kostbarsten,
sagen gegen die Arcizzi oder Gobelins, mit denen die Reichen im fünfzehnten,
sechzehnten und siebzehnten Jcchrhnndert die Wände ihrer Prunksüle behängten!
Es ist der Gipfel eines edeln Luxus, die Wände mit einem weichen, warmen
Seideutuche zu verhüllen, das des Bilderschmucks nicht bedarf, weil es selbst
Gemälde ist. Und wie viel Monate, vielleicht Jahre geduldiger kunstverständiger
Arbeit mag ein einziges dieser gewaltig großen Tücher erfordert haben! In
welchen Massen sie aber angefertigt wurden, davon bekommt man wohl nur in
Florenz einen Begriff. Den ganzen Oberstock des Archäologischen Museums
nimmt die dortige Sammlung ein; eine schier endlose Flucht von Sälen und
Gängen ist mit den herrlichsten gewebten Gemälden — nicht verschossenen, wie
die im Kuppelsale der Dresdner Gemäldegalerie, sondern meist wohlerhaltenen
und sarbenfrischen — austapeziert.

Also die Arbeit von elf Millionen hat damals hingereicht, das Leben
außer mit dein notwendigen auch noch mit Schmuck der dauerhaftesten und
edelsten Art zu versehen, und heute reicht der Markt nicht hin, die dreißig
Millionen mit Arbeit zu versehen! Um aber die Bedeutung dieses Menschen¬
überschusses vollauf zu würdigen, muß man den Blick nach Osten wenden, wo
ein Land zu Grunde geht, weil es ihm an Menschen fehlt. Die Gutsbesitzer
Südrußlands, so lasen wir jüngst, fürchten dieses Jahr bankrott zu werde»
wegen — der guten Ernte. Der reichliche Ernteausfall hat mehr Arbeiter,
daher mehr Geldkosten erfordert, aber der Erntesegen ist unverkäuflich. In der
Nähe giebts keine Städte, also keine Abnehmer. Den Absatz in die Ferne
hindert einerseits die Grenzsperre, anderseits der Mangel an Verkehrswegen,
an Eisenbahnen und Straßen. Weil Menschen, und namentlich weil geschickte
und gescheite, thätige und unternehmungslustige Menschen fehlen, darum bleibt
die volkswirtschaftlich notwendigste Arbeit umgethan, der Gottessegen ungenossen
und gehen die wenigen Menschen, die dort leben, zu Grunde! Also geschiehts
in einer Zeit, die angeblich „unter dem Zeichen des Verkehrs steht," und für
die, wenn sie nur will, die Entfernungen aufgehoben sind. O unbegreifliche
und ganz unerforschliche Weisheit der geheimrütlichen Vorsehung, der die Völker
Europas die Leitung ihrer Geschicke anvertraut haben!

Aber wo gerate ich hin! Tief in die Volkswirtschaft hinein und nach
Südrußland, das ich Gott sei Dank nicht nötig hatte zu besuchen. Dagegen
habe ich den guten Freunden und lieben Vettern der Russen, den Tschechen,
einen kurzen Besuch abgestattet, und dn ich diesem Volke gelegentlich böses
nachgesagt habe, so fühle ich mich verpflichtet, zu bekennen, daß es in der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/576>, abgerufen am 01.09.2024.