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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Reisegedanken und Reisebilder

Menge von Leuten ernährt sich dort mit dem Verkauf von Streichhölzchen
oder vielmehr Streichkerzchen! Früher soll es in Florenz von Blumenmädchen
gewimmelt haben. Die ließe man sich noch gefallen, sie würden wenigstens,
als hübsche Staffage, einen Zweck erfüllen. Leider waren diesen Sommer keine
zu sehen. Hielten sie Sommerschlaf bis zum Wiederbeginn der Fremdeusaison?
Waren sie von ihren Ersparnisse in die Bäder gereist? Haben sie sich, als
in unsre praktische, gewerbthätige, ernsthafte und Sittenstrenge Zeit nicht mehr
Passend, einen Schnurrbart anschaffen und in Zündkerzchenverkäufer verwan¬
deln müssen? Jedenfalls behaupten diese in erschreckender Überzahl das Feld.
Nicht daß ich mich, gleich andern Norddeutschen, durch den Anblick eines
Hausirers belästigt und entrüstet fühlte. Was mich schreckte, war nur der
Gedanke: selbst wenn alle Florentiner ebenso leidenschaftliche als ungeschickte
Raucher") wären und zu jeder Cigarre ein Dutzend Streichhölzer brauchten,
sie konnten unmöglich alle diese Dinger verbrauche!,, die hier höchst über¬
flüssigerweise feilgeboten werden, obwohl man sie in jedem Kramladen bekommt.
Der norddeutsche hat für diese und ähnliche Erscheinungen gewöhnlich die
Erklärung zur Hand: der Italiener ist eben zu faul, etwas Mühsameres zu
treiben. Aber wären sie wirklich so faul, und funde sich Arbeitsgelegenheit
genug im Lande, würden sie sich dn in Amerika, in der Schweiz, in Frank¬
reich dafür prügeln und totschlagen lassen, daß sie schwere Arbeiten billig und
gut verrichten und den Arbeitsverdienst nach Hause schicken? Die Thatsachen
sprechen hier zu deutlich, als daß sie sich mißdeuten ließen, und bestätigen
die in den Grenzboten wiederholt dargelegte Ansicht, daß bei den heutigen
Vevölkernngs- und Produktionsverhältnissen Mittel- nud Westeuropa für eine"
stetig wachsenden Teil seiner Bewohner nichts mehr zu thun hat. Die Be¬
trachtung dieses Zustandes wirkt in Italien um so peinlicher, als dort die
Denkmäler der Vergangenheit zeigen, wie angespannt thätig früher das ganze
Volk gewesen sein muß. Denn in einer Zeit, wo seine Kopfzahl nur den
dritten Teil der heutigen betrug (im sechzehnten Jahrhundert etwa elf Millionen),
hat es ohne die Hilfsmittel der heutige" Technik außer dem notwendigen
mich allen Schmuck des Lebens im reichlichsten Maße geschaffen. Haben doch
die alten Bauwerke weit mehr Arbeit gekostet als unsre heutigen, weil sie viel
solider und dabei bis in die kleinsten und feinsten Einzelheiten künstlerisch ausge¬
führt sind. Welche Uinnasse tuiistlerischer Handarbeit steckt allein in den Knpitälen
der fünfhundert Säulen von San Marco und der hnndertnndsiebeu Säulen der



*) Leidenschaftliche Raucher sind sie nicht. Bei einem starken Regen flüchtete ich mich
in die Loggia de' Lanzi und blieb dort zwei Stunden. Nach und nach samiuelten sich soviel
Arbeiter und Marktbauern darin, das; die geräumige Halle dicht mit proletarisch aussehend",
Menschen gefüllt war. Aber von dem Gestank und Qualm, den man in solcher Lage bei
uns auszustehen hat, blieb ich verschont. Nur wenige rauchten, und diese wenigen quälende"
uicht.
Reisegedanken und Reisebilder

Menge von Leuten ernährt sich dort mit dem Verkauf von Streichhölzchen
oder vielmehr Streichkerzchen! Früher soll es in Florenz von Blumenmädchen
gewimmelt haben. Die ließe man sich noch gefallen, sie würden wenigstens,
als hübsche Staffage, einen Zweck erfüllen. Leider waren diesen Sommer keine
zu sehen. Hielten sie Sommerschlaf bis zum Wiederbeginn der Fremdeusaison?
Waren sie von ihren Ersparnisse in die Bäder gereist? Haben sie sich, als
in unsre praktische, gewerbthätige, ernsthafte und Sittenstrenge Zeit nicht mehr
Passend, einen Schnurrbart anschaffen und in Zündkerzchenverkäufer verwan¬
deln müssen? Jedenfalls behaupten diese in erschreckender Überzahl das Feld.
Nicht daß ich mich, gleich andern Norddeutschen, durch den Anblick eines
Hausirers belästigt und entrüstet fühlte. Was mich schreckte, war nur der
Gedanke: selbst wenn alle Florentiner ebenso leidenschaftliche als ungeschickte
Raucher") wären und zu jeder Cigarre ein Dutzend Streichhölzer brauchten,
sie konnten unmöglich alle diese Dinger verbrauche!,, die hier höchst über¬
flüssigerweise feilgeboten werden, obwohl man sie in jedem Kramladen bekommt.
Der norddeutsche hat für diese und ähnliche Erscheinungen gewöhnlich die
Erklärung zur Hand: der Italiener ist eben zu faul, etwas Mühsameres zu
treiben. Aber wären sie wirklich so faul, und funde sich Arbeitsgelegenheit
genug im Lande, würden sie sich dn in Amerika, in der Schweiz, in Frank¬
reich dafür prügeln und totschlagen lassen, daß sie schwere Arbeiten billig und
gut verrichten und den Arbeitsverdienst nach Hause schicken? Die Thatsachen
sprechen hier zu deutlich, als daß sie sich mißdeuten ließen, und bestätigen
die in den Grenzboten wiederholt dargelegte Ansicht, daß bei den heutigen
Vevölkernngs- und Produktionsverhältnissen Mittel- nud Westeuropa für eine»
stetig wachsenden Teil seiner Bewohner nichts mehr zu thun hat. Die Be¬
trachtung dieses Zustandes wirkt in Italien um so peinlicher, als dort die
Denkmäler der Vergangenheit zeigen, wie angespannt thätig früher das ganze
Volk gewesen sein muß. Denn in einer Zeit, wo seine Kopfzahl nur den
dritten Teil der heutigen betrug (im sechzehnten Jahrhundert etwa elf Millionen),
hat es ohne die Hilfsmittel der heutige» Technik außer dem notwendigen
mich allen Schmuck des Lebens im reichlichsten Maße geschaffen. Haben doch
die alten Bauwerke weit mehr Arbeit gekostet als unsre heutigen, weil sie viel
solider und dabei bis in die kleinsten und feinsten Einzelheiten künstlerisch ausge¬
führt sind. Welche Uinnasse tuiistlerischer Handarbeit steckt allein in den Knpitälen
der fünfhundert Säulen von San Marco und der hnndertnndsiebeu Säulen der



*) Leidenschaftliche Raucher sind sie nicht. Bei einem starken Regen flüchtete ich mich
in die Loggia de' Lanzi und blieb dort zwei Stunden. Nach und nach samiuelten sich soviel
Arbeiter und Marktbauern darin, das; die geräumige Halle dicht mit proletarisch aussehend«,
Menschen gefüllt war. Aber von dem Gestank und Qualm, den man in solcher Lage bei
uns auszustehen hat, blieb ich verschont. Nur wenige rauchten, und diese wenigen quälende»
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[0575] Reisegedanken und Reisebilder Menge von Leuten ernährt sich dort mit dem Verkauf von Streichhölzchen oder vielmehr Streichkerzchen! Früher soll es in Florenz von Blumenmädchen gewimmelt haben. Die ließe man sich noch gefallen, sie würden wenigstens, als hübsche Staffage, einen Zweck erfüllen. Leider waren diesen Sommer keine zu sehen. Hielten sie Sommerschlaf bis zum Wiederbeginn der Fremdeusaison? Waren sie von ihren Ersparnisse in die Bäder gereist? Haben sie sich, als in unsre praktische, gewerbthätige, ernsthafte und Sittenstrenge Zeit nicht mehr Passend, einen Schnurrbart anschaffen und in Zündkerzchenverkäufer verwan¬ deln müssen? Jedenfalls behaupten diese in erschreckender Überzahl das Feld. Nicht daß ich mich, gleich andern Norddeutschen, durch den Anblick eines Hausirers belästigt und entrüstet fühlte. Was mich schreckte, war nur der Gedanke: selbst wenn alle Florentiner ebenso leidenschaftliche als ungeschickte Raucher") wären und zu jeder Cigarre ein Dutzend Streichhölzer brauchten, sie konnten unmöglich alle diese Dinger verbrauche!,, die hier höchst über¬ flüssigerweise feilgeboten werden, obwohl man sie in jedem Kramladen bekommt. Der norddeutsche hat für diese und ähnliche Erscheinungen gewöhnlich die Erklärung zur Hand: der Italiener ist eben zu faul, etwas Mühsameres zu treiben. Aber wären sie wirklich so faul, und funde sich Arbeitsgelegenheit genug im Lande, würden sie sich dn in Amerika, in der Schweiz, in Frank¬ reich dafür prügeln und totschlagen lassen, daß sie schwere Arbeiten billig und gut verrichten und den Arbeitsverdienst nach Hause schicken? Die Thatsachen sprechen hier zu deutlich, als daß sie sich mißdeuten ließen, und bestätigen die in den Grenzboten wiederholt dargelegte Ansicht, daß bei den heutigen Vevölkernngs- und Produktionsverhältnissen Mittel- nud Westeuropa für eine» stetig wachsenden Teil seiner Bewohner nichts mehr zu thun hat. Die Be¬ trachtung dieses Zustandes wirkt in Italien um so peinlicher, als dort die Denkmäler der Vergangenheit zeigen, wie angespannt thätig früher das ganze Volk gewesen sein muß. Denn in einer Zeit, wo seine Kopfzahl nur den dritten Teil der heutigen betrug (im sechzehnten Jahrhundert etwa elf Millionen), hat es ohne die Hilfsmittel der heutige» Technik außer dem notwendigen mich allen Schmuck des Lebens im reichlichsten Maße geschaffen. Haben doch die alten Bauwerke weit mehr Arbeit gekostet als unsre heutigen, weil sie viel solider und dabei bis in die kleinsten und feinsten Einzelheiten künstlerisch ausge¬ führt sind. Welche Uinnasse tuiistlerischer Handarbeit steckt allein in den Knpitälen der fünfhundert Säulen von San Marco und der hnndertnndsiebeu Säulen der *) Leidenschaftliche Raucher sind sie nicht. Bei einem starken Regen flüchtete ich mich in die Loggia de' Lanzi und blieb dort zwei Stunden. Nach und nach samiuelten sich soviel Arbeiter und Marktbauern darin, das; die geräumige Halle dicht mit proletarisch aussehend«, Menschen gefüllt war. Aber von dem Gestank und Qualm, den man in solcher Lage bei uns auszustehen hat, blieb ich verschont. Nur wenige rauchten, und diese wenigen quälende» uicht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/575>, abgerufen am 01.09.2024.