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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Rnsegedanl'er "ud Reiset'liber

schritte der Technik weit mehr den Reichen als den Armen zugute kommen, ja
die Lage der Armen wohl gar gegen früher verschlimmern. Daß Arme lediglich
zum Vergnügen reisten, kam in frühern Zeiten weit häufiger vor als hente.
Herbergen, in denen man nichts als Obdach fand -- die Kost konnte zusammen¬
gebettelt werden --, gastfreie Hütten (im Mittelalter Klöster) gewährten billige
oder kostenlose Unterkunft, nach einem Paß fragte niemand, Kriegszüge, Wall¬
fahrten, Kaufmaunsgeschäfte, Vervollkommnung im Handwerk boten solchen
Leuten, die der Forschungsdrang oder die bloße Neugier oder Veräuderungs-
lust zum Wandern trieben, willkommne Vormunde, und wars einem in der
Fremde nicht geglückt, kehrte er arm heim und mußte er vou vorn anfangen,
so war er deswegen nicht verachtet. Man kannte nicht die schrecklichen Worte
"deklassirt," "entgleist," die heute jeden Mittellosen zwingen, ohne Unterbrechung
im Joche und bei der Stange zu bleiben, bis er zusammenbricht. Demnach
war es auch kein Unglück, daß man lange Zeit brauchte, um einen entfernter"
Punkt zu erreichen. Ein Armer, der zum Vergnüge" reist, ohne sofort zum
Strolch herabzusinken, ist heute ganz undenkbar. Ein Tagelöhner oder Fabrik¬
arbeiter, der eine Erholungsreise antreten wollte, würde der Gegenstand ein¬
gehendster Untersuchungen für ein halbes Dutzend Behörden werden. Nur wenn
seine Gesundheit schon ans dem Hunde ist, kauu es ihn: vielleicht glücken, ins
Bad -- nicht aus freiem Entschluß zu reisen, sondern von wohlthätigen
Menschen geschickt zu werden, nachdem der Arzt sein leibliches und die Armen-
kommission sein wirtschaftliches Elend bescheinigt hat. Aber daß er reisen
sollte, um dem leiblichen Elend vorzubeugen, das ist ein unfaßbarer Gedanke.
Aber sogar der kleine Handwerker, der kleine Kaufmann sind Sklaven ihres
Berufs in einem Grade, wie es ehedem kein Höriger gewesen ist. Nament¬
lich kleine Kaufleute haben vor Erlaß des neuen Gesetzes über die Sonntags¬
ruhe nicht einmal Sonntags einen kleinen Ausflug in die nächste Nachbarschaft
ihres Wohnorts mache" können, und sie sind so gewöhnt an diesen Zustand
der Gebundenheit, und die Sorge und Angst um das tägliche Brot überwiegt
heute so sehr alle andern menschlichen Empfindungen, daß sie sich gegen die
Wohlthat, die zunächst allerdings ihren Gehilfen zugedacht war, aber doch auch
ihnen selbst zugute kommt, mit Händen und Füßen gewehrt haben und zum
Teil noch jetzt wehren. Und um entferntere Gegenden aufsuchen zu können,
dazu gehören trotz billiger Fahrpreise und rascher Beförderung bei der Ver¬
teuerung der Naturalverpflegung so bedeutende Mittel, daß auch Männer von
mittlerer Vermögenslage, wenn sie Familie haben, nicht leicht an so etwas
denken können, daß ihnen also, für diesen Zweck wenigstens, die "Aufhebung
von Zeit und Raum durch die Fortschritte der Technik" nichts nützt; einem
norddeutschen Familienvater von tausend Thalern Einkommen ist die Schweiz
so unerreichbar, als wenn sie im Monde läge.

Aber noch mehr. Verfüllt eine Gegend dem Bädeker, der in allem übrigen


Rnsegedanl'er »ud Reiset'liber

schritte der Technik weit mehr den Reichen als den Armen zugute kommen, ja
die Lage der Armen wohl gar gegen früher verschlimmern. Daß Arme lediglich
zum Vergnügen reisten, kam in frühern Zeiten weit häufiger vor als hente.
Herbergen, in denen man nichts als Obdach fand — die Kost konnte zusammen¬
gebettelt werden —, gastfreie Hütten (im Mittelalter Klöster) gewährten billige
oder kostenlose Unterkunft, nach einem Paß fragte niemand, Kriegszüge, Wall¬
fahrten, Kaufmaunsgeschäfte, Vervollkommnung im Handwerk boten solchen
Leuten, die der Forschungsdrang oder die bloße Neugier oder Veräuderungs-
lust zum Wandern trieben, willkommne Vormunde, und wars einem in der
Fremde nicht geglückt, kehrte er arm heim und mußte er vou vorn anfangen,
so war er deswegen nicht verachtet. Man kannte nicht die schrecklichen Worte
„deklassirt," „entgleist," die heute jeden Mittellosen zwingen, ohne Unterbrechung
im Joche und bei der Stange zu bleiben, bis er zusammenbricht. Demnach
war es auch kein Unglück, daß man lange Zeit brauchte, um einen entfernter»
Punkt zu erreichen. Ein Armer, der zum Vergnüge» reist, ohne sofort zum
Strolch herabzusinken, ist heute ganz undenkbar. Ein Tagelöhner oder Fabrik¬
arbeiter, der eine Erholungsreise antreten wollte, würde der Gegenstand ein¬
gehendster Untersuchungen für ein halbes Dutzend Behörden werden. Nur wenn
seine Gesundheit schon ans dem Hunde ist, kauu es ihn: vielleicht glücken, ins
Bad — nicht aus freiem Entschluß zu reisen, sondern von wohlthätigen
Menschen geschickt zu werden, nachdem der Arzt sein leibliches und die Armen-
kommission sein wirtschaftliches Elend bescheinigt hat. Aber daß er reisen
sollte, um dem leiblichen Elend vorzubeugen, das ist ein unfaßbarer Gedanke.
Aber sogar der kleine Handwerker, der kleine Kaufmann sind Sklaven ihres
Berufs in einem Grade, wie es ehedem kein Höriger gewesen ist. Nament¬
lich kleine Kaufleute haben vor Erlaß des neuen Gesetzes über die Sonntags¬
ruhe nicht einmal Sonntags einen kleinen Ausflug in die nächste Nachbarschaft
ihres Wohnorts mache» können, und sie sind so gewöhnt an diesen Zustand
der Gebundenheit, und die Sorge und Angst um das tägliche Brot überwiegt
heute so sehr alle andern menschlichen Empfindungen, daß sie sich gegen die
Wohlthat, die zunächst allerdings ihren Gehilfen zugedacht war, aber doch auch
ihnen selbst zugute kommt, mit Händen und Füßen gewehrt haben und zum
Teil noch jetzt wehren. Und um entferntere Gegenden aufsuchen zu können,
dazu gehören trotz billiger Fahrpreise und rascher Beförderung bei der Ver¬
teuerung der Naturalverpflegung so bedeutende Mittel, daß auch Männer von
mittlerer Vermögenslage, wenn sie Familie haben, nicht leicht an so etwas
denken können, daß ihnen also, für diesen Zweck wenigstens, die „Aufhebung
von Zeit und Raum durch die Fortschritte der Technik" nichts nützt; einem
norddeutschen Familienvater von tausend Thalern Einkommen ist die Schweiz
so unerreichbar, als wenn sie im Monde läge.

Aber noch mehr. Verfüllt eine Gegend dem Bädeker, der in allem übrigen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/573>, abgerufen am 24.11.2024.