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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Reisegedanken und Reisebilder

gerichtetes Gebäude braucht zwar nicht immer schön zu sein,") aber ein un¬
zweckmäßiger Bau ist gewöhnlich auch unschön, und Konstruktionsfehler sind
wohl stets zugleich Schönheitsfehler. Akademisch gebildete Baumeister unsrer
Zeit bringen es z. B. fertig, die Pilaster des Oberstocks ohne dazwischen¬
liegendes kräftiges Gesims unmittelbar auf die des Unterstocks zu stellen und
Wohl gar drei oder vier Reihen so unvermittelt aufeinanderzustengeln. Nun
haben zwar moderne Pilaster nichts zu tragen, aber sie machen doch den Ein¬
druck, als hätten sie etwas zu tragen und würden von dem, was unter ihnen
steht, getragen, und man erwartet bei jeder Erschütterung, diese wurmähnlichen
Gebilde umknicken und die obern Baukasteuklötzcheu über die untern herunter¬
purzeln zu sehen. Der Anblick macht seekrank und wirkt unschön im höchsten
Grade. Ähnlich ist es mit dem Angenehmen. Der peinigende schrille Klang
einer Brettsäge ist freilich keine Musik; aber auch die schönste Symphonie er¬
zeugt eigentlich kein leibliches Behagen, und bei der geringsten Unpäßlichkeit
wird jede Musik lästig. Am allerwenigsten Einfluß auf das leibliche Gedeihen
und Befinden haben die Wahrnehmungen des geistigsten aller Sinne, des Ge¬
sichtssinns. Es wäre geradezu lächerlich, wenn jemand behaupten wollte, dieser
oder jener schöne Anblick fördere das Leben des Individuums oder der Gat¬
tung. Nicht einmal das unmittelbar getroffne Sehorgan erfährt durch Schönes
irgend welche Förderung, wie ihm auch der häßlichste Anblick nichts schadet;
der Anblick eines abschreckend häßlichen Negerweibes erzeugt weder eine Augen-
entzündung, noch macht er kurzsichtig, noch schwächt er den Sehnerv. Im
Gegenteil sind es gerade schöne Erscheinungen, lebhafte Farbenspiele z. B.,
Schauspiele bei blendender Beleuchtung, die, allzu beharrlich angestarrt, den
Augen zuweilen schaden, und der Quell aller sichtbaren Schönheit, das Sonnen¬
licht, tötet, wenn seine Wirkung nicht abgeschwächt wird, die Sehkraft.

Also mit dem Zweckmäßiger und dem sinnlich Angenehmen steht das
Schöne freilich in Wechselwirkung, und der Anblick schöner Menschengestalten
kann durch die Verknüpfung gewisser andrer Nervenzeutreu mit dein Seh¬
zentrum in so besondrer Weise wirksam werden, daß hier die Verwechslung
des einen Gebietes mit dem andern nahe liegt, aber beim landschaftlich Schönen
ist keine Verwechslung möglich. Es giebt schlechterdings keine Stelle, weder
in den Verdanungsorganen noch sonstwo, an der das Individuum oder die
Gattung durch den Anblick einer schönen Landschaft gefördert oder dnrch den
eines Schmutzloches geschädigt würde. In der einförmigsten Ebne gedeiht das
Menschengeschlecht gerade so gut wie in einem hochromantischen Gebirge. Ja
bis in Rousseaus Zeiten hinein hat der allgemeine Geschmack die Gegenden,



*) Die Anordnung der Eingeweide im Gebunde des Menschenleibes ist eben so zweck-
mäßig als unschön. Schönheit war hier nicht nötig, weil ja die Eingeweide für gewöhnlich
nicht gesehen werden. Ihre Umkleidung hingegen, die sichtbar ist, verbindet die Schönheit
mit der Zweckmäßigkeit.
Reisegedanken und Reisebilder

gerichtetes Gebäude braucht zwar nicht immer schön zu sein,") aber ein un¬
zweckmäßiger Bau ist gewöhnlich auch unschön, und Konstruktionsfehler sind
wohl stets zugleich Schönheitsfehler. Akademisch gebildete Baumeister unsrer
Zeit bringen es z. B. fertig, die Pilaster des Oberstocks ohne dazwischen¬
liegendes kräftiges Gesims unmittelbar auf die des Unterstocks zu stellen und
Wohl gar drei oder vier Reihen so unvermittelt aufeinanderzustengeln. Nun
haben zwar moderne Pilaster nichts zu tragen, aber sie machen doch den Ein¬
druck, als hätten sie etwas zu tragen und würden von dem, was unter ihnen
steht, getragen, und man erwartet bei jeder Erschütterung, diese wurmähnlichen
Gebilde umknicken und die obern Baukasteuklötzcheu über die untern herunter¬
purzeln zu sehen. Der Anblick macht seekrank und wirkt unschön im höchsten
Grade. Ähnlich ist es mit dem Angenehmen. Der peinigende schrille Klang
einer Brettsäge ist freilich keine Musik; aber auch die schönste Symphonie er¬
zeugt eigentlich kein leibliches Behagen, und bei der geringsten Unpäßlichkeit
wird jede Musik lästig. Am allerwenigsten Einfluß auf das leibliche Gedeihen
und Befinden haben die Wahrnehmungen des geistigsten aller Sinne, des Ge¬
sichtssinns. Es wäre geradezu lächerlich, wenn jemand behaupten wollte, dieser
oder jener schöne Anblick fördere das Leben des Individuums oder der Gat¬
tung. Nicht einmal das unmittelbar getroffne Sehorgan erfährt durch Schönes
irgend welche Förderung, wie ihm auch der häßlichste Anblick nichts schadet;
der Anblick eines abschreckend häßlichen Negerweibes erzeugt weder eine Augen-
entzündung, noch macht er kurzsichtig, noch schwächt er den Sehnerv. Im
Gegenteil sind es gerade schöne Erscheinungen, lebhafte Farbenspiele z. B.,
Schauspiele bei blendender Beleuchtung, die, allzu beharrlich angestarrt, den
Augen zuweilen schaden, und der Quell aller sichtbaren Schönheit, das Sonnen¬
licht, tötet, wenn seine Wirkung nicht abgeschwächt wird, die Sehkraft.

Also mit dem Zweckmäßiger und dem sinnlich Angenehmen steht das
Schöne freilich in Wechselwirkung, und der Anblick schöner Menschengestalten
kann durch die Verknüpfung gewisser andrer Nervenzeutreu mit dein Seh¬
zentrum in so besondrer Weise wirksam werden, daß hier die Verwechslung
des einen Gebietes mit dem andern nahe liegt, aber beim landschaftlich Schönen
ist keine Verwechslung möglich. Es giebt schlechterdings keine Stelle, weder
in den Verdanungsorganen noch sonstwo, an der das Individuum oder die
Gattung durch den Anblick einer schönen Landschaft gefördert oder dnrch den
eines Schmutzloches geschädigt würde. In der einförmigsten Ebne gedeiht das
Menschengeschlecht gerade so gut wie in einem hochromantischen Gebirge. Ja
bis in Rousseaus Zeiten hinein hat der allgemeine Geschmack die Gegenden,



*) Die Anordnung der Eingeweide im Gebunde des Menschenleibes ist eben so zweck-
mäßig als unschön. Schönheit war hier nicht nötig, weil ja die Eingeweide für gewöhnlich
nicht gesehen werden. Ihre Umkleidung hingegen, die sichtbar ist, verbindet die Schönheit
mit der Zweckmäßigkeit.
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[0570] Reisegedanken und Reisebilder gerichtetes Gebäude braucht zwar nicht immer schön zu sein,") aber ein un¬ zweckmäßiger Bau ist gewöhnlich auch unschön, und Konstruktionsfehler sind wohl stets zugleich Schönheitsfehler. Akademisch gebildete Baumeister unsrer Zeit bringen es z. B. fertig, die Pilaster des Oberstocks ohne dazwischen¬ liegendes kräftiges Gesims unmittelbar auf die des Unterstocks zu stellen und Wohl gar drei oder vier Reihen so unvermittelt aufeinanderzustengeln. Nun haben zwar moderne Pilaster nichts zu tragen, aber sie machen doch den Ein¬ druck, als hätten sie etwas zu tragen und würden von dem, was unter ihnen steht, getragen, und man erwartet bei jeder Erschütterung, diese wurmähnlichen Gebilde umknicken und die obern Baukasteuklötzcheu über die untern herunter¬ purzeln zu sehen. Der Anblick macht seekrank und wirkt unschön im höchsten Grade. Ähnlich ist es mit dem Angenehmen. Der peinigende schrille Klang einer Brettsäge ist freilich keine Musik; aber auch die schönste Symphonie er¬ zeugt eigentlich kein leibliches Behagen, und bei der geringsten Unpäßlichkeit wird jede Musik lästig. Am allerwenigsten Einfluß auf das leibliche Gedeihen und Befinden haben die Wahrnehmungen des geistigsten aller Sinne, des Ge¬ sichtssinns. Es wäre geradezu lächerlich, wenn jemand behaupten wollte, dieser oder jener schöne Anblick fördere das Leben des Individuums oder der Gat¬ tung. Nicht einmal das unmittelbar getroffne Sehorgan erfährt durch Schönes irgend welche Förderung, wie ihm auch der häßlichste Anblick nichts schadet; der Anblick eines abschreckend häßlichen Negerweibes erzeugt weder eine Augen- entzündung, noch macht er kurzsichtig, noch schwächt er den Sehnerv. Im Gegenteil sind es gerade schöne Erscheinungen, lebhafte Farbenspiele z. B., Schauspiele bei blendender Beleuchtung, die, allzu beharrlich angestarrt, den Augen zuweilen schaden, und der Quell aller sichtbaren Schönheit, das Sonnen¬ licht, tötet, wenn seine Wirkung nicht abgeschwächt wird, die Sehkraft. Also mit dem Zweckmäßiger und dem sinnlich Angenehmen steht das Schöne freilich in Wechselwirkung, und der Anblick schöner Menschengestalten kann durch die Verknüpfung gewisser andrer Nervenzeutreu mit dein Seh¬ zentrum in so besondrer Weise wirksam werden, daß hier die Verwechslung des einen Gebietes mit dem andern nahe liegt, aber beim landschaftlich Schönen ist keine Verwechslung möglich. Es giebt schlechterdings keine Stelle, weder in den Verdanungsorganen noch sonstwo, an der das Individuum oder die Gattung durch den Anblick einer schönen Landschaft gefördert oder dnrch den eines Schmutzloches geschädigt würde. In der einförmigsten Ebne gedeiht das Menschengeschlecht gerade so gut wie in einem hochromantischen Gebirge. Ja bis in Rousseaus Zeiten hinein hat der allgemeine Geschmack die Gegenden, *) Die Anordnung der Eingeweide im Gebunde des Menschenleibes ist eben so zweck- mäßig als unschön. Schönheit war hier nicht nötig, weil ja die Eingeweide für gewöhnlich nicht gesehen werden. Ihre Umkleidung hingegen, die sichtbar ist, verbindet die Schönheit mit der Zweckmäßigkeit.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/570>, abgerufen am 01.09.2024.