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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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U)ir Journalisten

sammeugeschrieben, das Publikum munter angelogen, die Thatsachen gefälscht
oder mindestens entstellt und einer gefälligen Form, vielleicht einem Kalauer
zu liebe das mühsam von der Wissenschaft zusammengetragne zerpflückt und
auseinandergerissen. Das Publikum behält zwar nicht viel davon, aber die
leichtfertige Urd sitzt doch fest und diskreditirt allmählich alles ernste Schaffen.
Der Journalist selbst gewöhnt sich daran, mit den Thatsachen leichtfertig um-
zuspringen, er wird zum Charlatan, aber zu einem gefährlichen, selten er¬
kannten, und das um so schneller, je jünger und unreifer er beim Eintritt in
den Beruf war. Im Verhältnis zu der Wichtigkeit des Berufs und zum Ein¬
fluß der Stellung sind die Journalisten, besonders die Zeitnngsleiter, überhaupt
viel zu jung; für einen "Generalanzeiger," dessen ganzer Inhalt, manche In¬
serate eingeschlossen, andern Blättern gestohlen ist, mag ein junger Mensch
von fünfundzwanzig Jahren als Leiter genügen, wenn er "ur ein bischen
redaktionelle Routine hat, aber für ein politisches Blatt taugt er nichts.
Ein politisches Blatt hat eine verantwortliche Stellung, es hat einen großen
Pflichtenkreis, sür den nur ein erfahrner und gesetzter Mann von umfassenden
Wissen und großer Lebensklugheit Paßt. Größere Blätter wissen das mich
und handeln darnach, aber auch bei ihnen scheint eS immer mehr Brauch
zu werden, die Kritik über Litteratur, Musik, Theater, bildende Kunst den
jüngsten, unreifsten und ungeschultesten Leuten zu übertragen. Es ist himmel¬
schreiend, wie miserabel die Kritik in unsern Tagesblättern ist. Anfängern,
denen ein Redakteur keine Lvkalnachricht zum Zurechtstutzen überlassen würde,
wird die schwere und verantwortungsvolle Aufgabe gestellt, über künstlerische
Schöpfungen zu Gericht zu sitzen. Kerlchen, die nicht imstande sind, eine kleine
Novelle zu schreiben, die kaum wissen, was Melodie und Harmonie heißt, die
von der Technik des Dramas den letzten Rest ihrer Primanerweisheit längst
verschwitzt haben, die ein Ölbild nicht von einem Aquarell zu unterscheiden
vermögen, sollen Kritiker sein! Wie es kommt, daß selbst angesehne Blätter in
diesen dümmsten aller Fehler verfallen, zeigt ein Blick in die Berliner Re-
daktionsstubeu. Du lieber Himmel, wie viel hat so ein Chefredakteur Bettern
auf dem Halse, die ihn alle um Beschäftigung anbetteln! In seiner Verzweif¬
lung überläßt er ihnen das Gebiet, das am meisten verträgt, und das ist die
Kritik. Bis ein Kritiker einem Blatte schadet, muß er schon riesige Dumm¬
heiten gemacht haben, und in unsrer Zeit, bei dem herrschenden Durst nach
Genialem, gelten manchmal die noch als -- Genie. Die journalistische Vettern¬
schaft ist ein Krebsschaden des Zeitungswesens; hinter jeder Berliner Vakanz z.B.
stehen zwanzig Vettern. Ehe es hier einem tüchtigen, aber protektionslosen Talent
gelingt, sich eine Stellung zu verschaffen, kann der arme Teufel zehnmal ver¬
hungern, die Befähigung entscheidet bei der Anstellung eines Redakteurs in letzter
Linie, erst kommt die Familie, dann die Geschmeidigkeit und endlich die Religion.

Das bringt mich auf einen der bedenklichsten Punkte des Journalistcntnms,


U)ir Journalisten

sammeugeschrieben, das Publikum munter angelogen, die Thatsachen gefälscht
oder mindestens entstellt und einer gefälligen Form, vielleicht einem Kalauer
zu liebe das mühsam von der Wissenschaft zusammengetragne zerpflückt und
auseinandergerissen. Das Publikum behält zwar nicht viel davon, aber die
leichtfertige Urd sitzt doch fest und diskreditirt allmählich alles ernste Schaffen.
Der Journalist selbst gewöhnt sich daran, mit den Thatsachen leichtfertig um-
zuspringen, er wird zum Charlatan, aber zu einem gefährlichen, selten er¬
kannten, und das um so schneller, je jünger und unreifer er beim Eintritt in
den Beruf war. Im Verhältnis zu der Wichtigkeit des Berufs und zum Ein¬
fluß der Stellung sind die Journalisten, besonders die Zeitnngsleiter, überhaupt
viel zu jung; für einen „Generalanzeiger," dessen ganzer Inhalt, manche In¬
serate eingeschlossen, andern Blättern gestohlen ist, mag ein junger Mensch
von fünfundzwanzig Jahren als Leiter genügen, wenn er »ur ein bischen
redaktionelle Routine hat, aber für ein politisches Blatt taugt er nichts.
Ein politisches Blatt hat eine verantwortliche Stellung, es hat einen großen
Pflichtenkreis, sür den nur ein erfahrner und gesetzter Mann von umfassenden
Wissen und großer Lebensklugheit Paßt. Größere Blätter wissen das mich
und handeln darnach, aber auch bei ihnen scheint eS immer mehr Brauch
zu werden, die Kritik über Litteratur, Musik, Theater, bildende Kunst den
jüngsten, unreifsten und ungeschultesten Leuten zu übertragen. Es ist himmel¬
schreiend, wie miserabel die Kritik in unsern Tagesblättern ist. Anfängern,
denen ein Redakteur keine Lvkalnachricht zum Zurechtstutzen überlassen würde,
wird die schwere und verantwortungsvolle Aufgabe gestellt, über künstlerische
Schöpfungen zu Gericht zu sitzen. Kerlchen, die nicht imstande sind, eine kleine
Novelle zu schreiben, die kaum wissen, was Melodie und Harmonie heißt, die
von der Technik des Dramas den letzten Rest ihrer Primanerweisheit längst
verschwitzt haben, die ein Ölbild nicht von einem Aquarell zu unterscheiden
vermögen, sollen Kritiker sein! Wie es kommt, daß selbst angesehne Blätter in
diesen dümmsten aller Fehler verfallen, zeigt ein Blick in die Berliner Re-
daktionsstubeu. Du lieber Himmel, wie viel hat so ein Chefredakteur Bettern
auf dem Halse, die ihn alle um Beschäftigung anbetteln! In seiner Verzweif¬
lung überläßt er ihnen das Gebiet, das am meisten verträgt, und das ist die
Kritik. Bis ein Kritiker einem Blatte schadet, muß er schon riesige Dumm¬
heiten gemacht haben, und in unsrer Zeit, bei dem herrschenden Durst nach
Genialem, gelten manchmal die noch als — Genie. Die journalistische Vettern¬
schaft ist ein Krebsschaden des Zeitungswesens; hinter jeder Berliner Vakanz z.B.
stehen zwanzig Vettern. Ehe es hier einem tüchtigen, aber protektionslosen Talent
gelingt, sich eine Stellung zu verschaffen, kann der arme Teufel zehnmal ver¬
hungern, die Befähigung entscheidet bei der Anstellung eines Redakteurs in letzter
Linie, erst kommt die Familie, dann die Geschmeidigkeit und endlich die Religion.

Das bringt mich auf einen der bedenklichsten Punkte des Journalistcntnms,


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[0564] U)ir Journalisten sammeugeschrieben, das Publikum munter angelogen, die Thatsachen gefälscht oder mindestens entstellt und einer gefälligen Form, vielleicht einem Kalauer zu liebe das mühsam von der Wissenschaft zusammengetragne zerpflückt und auseinandergerissen. Das Publikum behält zwar nicht viel davon, aber die leichtfertige Urd sitzt doch fest und diskreditirt allmählich alles ernste Schaffen. Der Journalist selbst gewöhnt sich daran, mit den Thatsachen leichtfertig um- zuspringen, er wird zum Charlatan, aber zu einem gefährlichen, selten er¬ kannten, und das um so schneller, je jünger und unreifer er beim Eintritt in den Beruf war. Im Verhältnis zu der Wichtigkeit des Berufs und zum Ein¬ fluß der Stellung sind die Journalisten, besonders die Zeitnngsleiter, überhaupt viel zu jung; für einen „Generalanzeiger," dessen ganzer Inhalt, manche In¬ serate eingeschlossen, andern Blättern gestohlen ist, mag ein junger Mensch von fünfundzwanzig Jahren als Leiter genügen, wenn er »ur ein bischen redaktionelle Routine hat, aber für ein politisches Blatt taugt er nichts. Ein politisches Blatt hat eine verantwortliche Stellung, es hat einen großen Pflichtenkreis, sür den nur ein erfahrner und gesetzter Mann von umfassenden Wissen und großer Lebensklugheit Paßt. Größere Blätter wissen das mich und handeln darnach, aber auch bei ihnen scheint eS immer mehr Brauch zu werden, die Kritik über Litteratur, Musik, Theater, bildende Kunst den jüngsten, unreifsten und ungeschultesten Leuten zu übertragen. Es ist himmel¬ schreiend, wie miserabel die Kritik in unsern Tagesblättern ist. Anfängern, denen ein Redakteur keine Lvkalnachricht zum Zurechtstutzen überlassen würde, wird die schwere und verantwortungsvolle Aufgabe gestellt, über künstlerische Schöpfungen zu Gericht zu sitzen. Kerlchen, die nicht imstande sind, eine kleine Novelle zu schreiben, die kaum wissen, was Melodie und Harmonie heißt, die von der Technik des Dramas den letzten Rest ihrer Primanerweisheit längst verschwitzt haben, die ein Ölbild nicht von einem Aquarell zu unterscheiden vermögen, sollen Kritiker sein! Wie es kommt, daß selbst angesehne Blätter in diesen dümmsten aller Fehler verfallen, zeigt ein Blick in die Berliner Re- daktionsstubeu. Du lieber Himmel, wie viel hat so ein Chefredakteur Bettern auf dem Halse, die ihn alle um Beschäftigung anbetteln! In seiner Verzweif¬ lung überläßt er ihnen das Gebiet, das am meisten verträgt, und das ist die Kritik. Bis ein Kritiker einem Blatte schadet, muß er schon riesige Dumm¬ heiten gemacht haben, und in unsrer Zeit, bei dem herrschenden Durst nach Genialem, gelten manchmal die noch als — Genie. Die journalistische Vettern¬ schaft ist ein Krebsschaden des Zeitungswesens; hinter jeder Berliner Vakanz z.B. stehen zwanzig Vettern. Ehe es hier einem tüchtigen, aber protektionslosen Talent gelingt, sich eine Stellung zu verschaffen, kann der arme Teufel zehnmal ver¬ hungern, die Befähigung entscheidet bei der Anstellung eines Redakteurs in letzter Linie, erst kommt die Familie, dann die Geschmeidigkeit und endlich die Religion. Das bringt mich auf einen der bedenklichsten Punkte des Journalistcntnms,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/564>, abgerufen am 01.09.2024.