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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Indische Zustände

wie sie sehr deutlich den allgemeine" Ton des indischen Mnhammedniiismns
von dem andrer Länder unterscheidet. Ans der andern Seite war der Vrah-
manismus infolge seines Mangels an organischem Bau, an einer katholischen
Organisation und an leitende" Gedanken nicht befähigt, selbst unmittelbaren
Angriffen mehr als passive" Widerstand entgegenzusetzen. Die Engländer aber
standen von Angriffen jeder Art wohlweislich ab. Solange sie in Indien bloß
Handelsleute waren, mußten sie schon im Interesse ihrer geschäftlichen Be¬
ziehungen zu den Indern religiöse Duldsamkeit üben. Später schrieben ihnen
die Gesetze politischer Klugheit dasselbe Verfahre" vor- Und da die Begrün¬
dung ihrer Herrschaft ans der Halbinsel gerade in eine Zeit der tiefsten Ebbe
in dem religiösen Leben ihrer Nation fiel, so blieben die Brite" auch als Er¬
oberer de" alten Überlieferungen der Kompanie getreu. Die Kompanie als
politische Macht war religionslos.

Nachdem wir so im allgemeinen gesehen haben, wie die politischen Zu¬
stünde der Halbinsel die Errichtung einer Fremdherrschaft begünstigten, bleibt
uns nur noch übrig, nachzuweisen, wie gerade eine Gesellschaft britischer
Handelsleute die höchste Gewalt an sich reißen konnte. Die Begründung des
angloindischen Reichs fällt in eine Periode der Anarchie, wie sie Europa
höchstens während des Niederganges des Karolingischen Hauses erlebt hat,
und zu der selbst die Annalen Indiens kein Gegenstück bieten. Es war eine
Zeit vollständiger politischer Auflösung, eine Zeit der Verwirrung und des
allgemeinen Zusammenbruchs, wie sie nur auf den Fall eines weiten des¬
potischen Reiches folgen kann, das sorgfältig alle lokalen Stütze" und Bande
beseitigt und gelöst hat. El" solcher Zustand allgemeiner Verwirrung und
Anarchie begünstigt ganz besonders das Emporkommen "euer Mächte.") Uuter
andern Verhältnissen erfordert jede Eroberung eine feste Grundlage, ein ge¬
wisses "Anfangskapital." Niemand kann sie unternehmen, der nicht schon
einen anerkannten Einfluß besitzt und über eine feste Kriegsmacht verfügt.
Nicht so in dem Indien nach Aurangzebs Tode. Haidar Ali hatte nichts
als seinen klaren Kopf und seine feste Hand und ward doch Sultan von
Maisur. Denn Svldnerbanden gab es überall; sie dienten jedem, der sie be¬
zahlen oder sonst Einfluß über sie gewinnen konnte; und jeder, der ein solches
Söldnerheer befehligte, war den größte" Herrscher" Indiens gleich, da in der
allgemeinen Verwirrung nur noch der Säbel etwas galt.

Unter den verschiednen Mächten nnn, die uuter diesen besondern Ver¬
hältnissen mit einiger Aussicht auf Erfolg auf die Gründung eines großen
Reiches ausgehe" konnten, war eine gewisse Gesellschaft von Kaufleuten, die
in den größer" Hafenstädten Faktoreien besaßen. Allerdings waren sie Aus¬
länder, aber das ko""te kein Hindernis sein in einem Lande, wo der Begriff



*) Das Nächstfolgende im Anschluß an Professor Seeleys llxp-msio" Lnglaiul.
Indische Zustände

wie sie sehr deutlich den allgemeine» Ton des indischen Mnhammedniiismns
von dem andrer Länder unterscheidet. Ans der andern Seite war der Vrah-
manismus infolge seines Mangels an organischem Bau, an einer katholischen
Organisation und an leitende» Gedanken nicht befähigt, selbst unmittelbaren
Angriffen mehr als passive» Widerstand entgegenzusetzen. Die Engländer aber
standen von Angriffen jeder Art wohlweislich ab. Solange sie in Indien bloß
Handelsleute waren, mußten sie schon im Interesse ihrer geschäftlichen Be¬
ziehungen zu den Indern religiöse Duldsamkeit üben. Später schrieben ihnen
die Gesetze politischer Klugheit dasselbe Verfahre» vor- Und da die Begrün¬
dung ihrer Herrschaft ans der Halbinsel gerade in eine Zeit der tiefsten Ebbe
in dem religiösen Leben ihrer Nation fiel, so blieben die Brite» auch als Er¬
oberer de» alten Überlieferungen der Kompanie getreu. Die Kompanie als
politische Macht war religionslos.

Nachdem wir so im allgemeinen gesehen haben, wie die politischen Zu¬
stünde der Halbinsel die Errichtung einer Fremdherrschaft begünstigten, bleibt
uns nur noch übrig, nachzuweisen, wie gerade eine Gesellschaft britischer
Handelsleute die höchste Gewalt an sich reißen konnte. Die Begründung des
angloindischen Reichs fällt in eine Periode der Anarchie, wie sie Europa
höchstens während des Niederganges des Karolingischen Hauses erlebt hat,
und zu der selbst die Annalen Indiens kein Gegenstück bieten. Es war eine
Zeit vollständiger politischer Auflösung, eine Zeit der Verwirrung und des
allgemeinen Zusammenbruchs, wie sie nur auf den Fall eines weiten des¬
potischen Reiches folgen kann, das sorgfältig alle lokalen Stütze» und Bande
beseitigt und gelöst hat. El» solcher Zustand allgemeiner Verwirrung und
Anarchie begünstigt ganz besonders das Emporkommen »euer Mächte.") Uuter
andern Verhältnissen erfordert jede Eroberung eine feste Grundlage, ein ge¬
wisses „Anfangskapital." Niemand kann sie unternehmen, der nicht schon
einen anerkannten Einfluß besitzt und über eine feste Kriegsmacht verfügt.
Nicht so in dem Indien nach Aurangzebs Tode. Haidar Ali hatte nichts
als seinen klaren Kopf und seine feste Hand und ward doch Sultan von
Maisur. Denn Svldnerbanden gab es überall; sie dienten jedem, der sie be¬
zahlen oder sonst Einfluß über sie gewinnen konnte; und jeder, der ein solches
Söldnerheer befehligte, war den größte» Herrscher» Indiens gleich, da in der
allgemeinen Verwirrung nur noch der Säbel etwas galt.

Unter den verschiednen Mächten nnn, die uuter diesen besondern Ver¬
hältnissen mit einiger Aussicht auf Erfolg auf die Gründung eines großen
Reiches ausgehe» konnten, war eine gewisse Gesellschaft von Kaufleuten, die
in den größer» Hafenstädten Faktoreien besaßen. Allerdings waren sie Aus¬
länder, aber das ko»»te kein Hindernis sein in einem Lande, wo der Begriff



*) Das Nächstfolgende im Anschluß an Professor Seeleys llxp-msio» Lnglaiul.
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[0558] Indische Zustände wie sie sehr deutlich den allgemeine» Ton des indischen Mnhammedniiismns von dem andrer Länder unterscheidet. Ans der andern Seite war der Vrah- manismus infolge seines Mangels an organischem Bau, an einer katholischen Organisation und an leitende» Gedanken nicht befähigt, selbst unmittelbaren Angriffen mehr als passive» Widerstand entgegenzusetzen. Die Engländer aber standen von Angriffen jeder Art wohlweislich ab. Solange sie in Indien bloß Handelsleute waren, mußten sie schon im Interesse ihrer geschäftlichen Be¬ ziehungen zu den Indern religiöse Duldsamkeit üben. Später schrieben ihnen die Gesetze politischer Klugheit dasselbe Verfahre» vor- Und da die Begrün¬ dung ihrer Herrschaft ans der Halbinsel gerade in eine Zeit der tiefsten Ebbe in dem religiösen Leben ihrer Nation fiel, so blieben die Brite» auch als Er¬ oberer de» alten Überlieferungen der Kompanie getreu. Die Kompanie als politische Macht war religionslos. Nachdem wir so im allgemeinen gesehen haben, wie die politischen Zu¬ stünde der Halbinsel die Errichtung einer Fremdherrschaft begünstigten, bleibt uns nur noch übrig, nachzuweisen, wie gerade eine Gesellschaft britischer Handelsleute die höchste Gewalt an sich reißen konnte. Die Begründung des angloindischen Reichs fällt in eine Periode der Anarchie, wie sie Europa höchstens während des Niederganges des Karolingischen Hauses erlebt hat, und zu der selbst die Annalen Indiens kein Gegenstück bieten. Es war eine Zeit vollständiger politischer Auflösung, eine Zeit der Verwirrung und des allgemeinen Zusammenbruchs, wie sie nur auf den Fall eines weiten des¬ potischen Reiches folgen kann, das sorgfältig alle lokalen Stütze» und Bande beseitigt und gelöst hat. El» solcher Zustand allgemeiner Verwirrung und Anarchie begünstigt ganz besonders das Emporkommen »euer Mächte.") Uuter andern Verhältnissen erfordert jede Eroberung eine feste Grundlage, ein ge¬ wisses „Anfangskapital." Niemand kann sie unternehmen, der nicht schon einen anerkannten Einfluß besitzt und über eine feste Kriegsmacht verfügt. Nicht so in dem Indien nach Aurangzebs Tode. Haidar Ali hatte nichts als seinen klaren Kopf und seine feste Hand und ward doch Sultan von Maisur. Denn Svldnerbanden gab es überall; sie dienten jedem, der sie be¬ zahlen oder sonst Einfluß über sie gewinnen konnte; und jeder, der ein solches Söldnerheer befehligte, war den größte» Herrscher» Indiens gleich, da in der allgemeinen Verwirrung nur noch der Säbel etwas galt. Unter den verschiednen Mächten nnn, die uuter diesen besondern Ver¬ hältnissen mit einiger Aussicht auf Erfolg auf die Gründung eines großen Reiches ausgehe» konnten, war eine gewisse Gesellschaft von Kaufleuten, die in den größer» Hafenstädten Faktoreien besaßen. Allerdings waren sie Aus¬ länder, aber das ko»»te kein Hindernis sein in einem Lande, wo der Begriff *) Das Nächstfolgende im Anschluß an Professor Seeleys llxp-msio» Lnglaiul.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/558>, abgerufen am 01.09.2024.