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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Siege über ungebildete, mit Keulen und Steinschwcrtern bewaffnete Wilde;
Lord Clive stand auf dem Felde von Plasseh einer hochzivilisirten Rasse und
dem Feuer von fünfzig schweren Geschützen gegenüber.

Wahrlich die Eroberung Indiens scheint ans Wunderbare zu grenzen.
Welche Anstrengungen hat es den Franzosen gekostet, sich in den Besitz Al¬
geriens zu setzen! Frankreich, damals der erste Militärstaat der Welt, mit
einer Bevölkerung von 32 Millionen Menschen und einem Flächeninhalt von
520000 Quadratkilometern, entsandte nach Algier im Jahre 1830 eine wohl¬
ausgerüstete Macht von 35000 Mann, die bald durch Nachschübe auf die Stärke
von 50000 Mann gebracht wurde; aber siebenundzwanzig Jahre vergingen in
unausgesetzten Kämpfen, bis die Unterwerfung des Landes vollzogen war.
Dabei war Frankreich während dieser Zeit in keine andern Kriege verwickelt;
die nordafrikanische Küste liegt nur 400 Seemeilen von dem Hafen von Toulon
entfernt; Algerien mißt kaum 315000 Quadratkilometer, und die Bevöl¬
kerung zählt nicht drei Millionen. Indien hatte um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts jedenfalls 120 Millionen Einwohner auf einem Gebiete von
4000000 Quadratkilometern, während das englische Volk auf 315000 Quadrat¬
kilometer" etwa 12 Millionen Köpfe zählte. Mehr als 15000 Seemeilen trennten
die beiden Länder. Und England hat niemals Anspruch darauf erhoben, ein
Militärstaat zu sein; es war damals ebensowenig wie hente imstande, für aus¬
wärtige Unternehmungen starke Heere ins Feld zu stellen. Und gerade wäh¬
rend der Jahrzehnte, die die entscheidenden Kämpfe und sowohl die Begrün¬
dung wie die hauptsächlichste Ausdehnung der englischen Herrschaft in Indien
sahen, war Großbritannien tief in die größten europäischen Kriege der Neu¬
zeit verwickelt. Clives Laufbahn fällt zum großen Teil in die Zeit des sieben¬
jährigen Krieges, und Lord Wellesleh brach die Macht der Marathen inmitten
des langjährigen Ringens mit Napoleon.

Überdies war England als Staat an der Erwerbung Indiens gar nicht
einmal beteiligt, wenn ihm auch schließlich die reife Frucht zugefallen ist. Das
anglv-indische Reich ist die Schöpfung einer Kompanie englischer Kaufleute, die
im Grunde ganz andre Zwecke verfolgten als die der Eroberung. Die Direk¬
toren in Leadenhall Street schenken thatsächlich nichts so sehr wie die unpro-
duktiven Ausgaben für Militär. Kostete ihnen doch der Transport nach In¬
dien allein 600 Mark für jeden Fußsoldaten und 1600 Mark für jeden Reiter.
Die Kompanie war und blieb eine Gesellschaft von Kaufleuten. Eine gute
Dividende war das Ziel ihrer Wünsche, und in jeder kriegerischen Unterneh¬
mung sahen sie nur eine Gefahr für den Stand ihrer Aktien. Gegen ihren
Willen und ohne ihr Zuthun wurde diese Gesellschaft von Handelsleuten auf
die Bahn der Eroberung gedrängt. Es waren die ehrgeizigen Bestrebungen
ihrer französischen Nebenbuhler, die die Engländer zwangen, in dus politische
Getriebe der Halbinsel einzugreifen. Es waren die ihre Existenz bedrohenden


Grenzboten III 1893 69

Siege über ungebildete, mit Keulen und Steinschwcrtern bewaffnete Wilde;
Lord Clive stand auf dem Felde von Plasseh einer hochzivilisirten Rasse und
dem Feuer von fünfzig schweren Geschützen gegenüber.

Wahrlich die Eroberung Indiens scheint ans Wunderbare zu grenzen.
Welche Anstrengungen hat es den Franzosen gekostet, sich in den Besitz Al¬
geriens zu setzen! Frankreich, damals der erste Militärstaat der Welt, mit
einer Bevölkerung von 32 Millionen Menschen und einem Flächeninhalt von
520000 Quadratkilometern, entsandte nach Algier im Jahre 1830 eine wohl¬
ausgerüstete Macht von 35000 Mann, die bald durch Nachschübe auf die Stärke
von 50000 Mann gebracht wurde; aber siebenundzwanzig Jahre vergingen in
unausgesetzten Kämpfen, bis die Unterwerfung des Landes vollzogen war.
Dabei war Frankreich während dieser Zeit in keine andern Kriege verwickelt;
die nordafrikanische Küste liegt nur 400 Seemeilen von dem Hafen von Toulon
entfernt; Algerien mißt kaum 315000 Quadratkilometer, und die Bevöl¬
kerung zählt nicht drei Millionen. Indien hatte um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts jedenfalls 120 Millionen Einwohner auf einem Gebiete von
4000000 Quadratkilometern, während das englische Volk auf 315000 Quadrat¬
kilometer« etwa 12 Millionen Köpfe zählte. Mehr als 15000 Seemeilen trennten
die beiden Länder. Und England hat niemals Anspruch darauf erhoben, ein
Militärstaat zu sein; es war damals ebensowenig wie hente imstande, für aus¬
wärtige Unternehmungen starke Heere ins Feld zu stellen. Und gerade wäh¬
rend der Jahrzehnte, die die entscheidenden Kämpfe und sowohl die Begrün¬
dung wie die hauptsächlichste Ausdehnung der englischen Herrschaft in Indien
sahen, war Großbritannien tief in die größten europäischen Kriege der Neu¬
zeit verwickelt. Clives Laufbahn fällt zum großen Teil in die Zeit des sieben¬
jährigen Krieges, und Lord Wellesleh brach die Macht der Marathen inmitten
des langjährigen Ringens mit Napoleon.

Überdies war England als Staat an der Erwerbung Indiens gar nicht
einmal beteiligt, wenn ihm auch schließlich die reife Frucht zugefallen ist. Das
anglv-indische Reich ist die Schöpfung einer Kompanie englischer Kaufleute, die
im Grunde ganz andre Zwecke verfolgten als die der Eroberung. Die Direk¬
toren in Leadenhall Street schenken thatsächlich nichts so sehr wie die unpro-
duktiven Ausgaben für Militär. Kostete ihnen doch der Transport nach In¬
dien allein 600 Mark für jeden Fußsoldaten und 1600 Mark für jeden Reiter.
Die Kompanie war und blieb eine Gesellschaft von Kaufleuten. Eine gute
Dividende war das Ziel ihrer Wünsche, und in jeder kriegerischen Unterneh¬
mung sahen sie nur eine Gefahr für den Stand ihrer Aktien. Gegen ihren
Willen und ohne ihr Zuthun wurde diese Gesellschaft von Handelsleuten auf
die Bahn der Eroberung gedrängt. Es waren die ehrgeizigen Bestrebungen
ihrer französischen Nebenbuhler, die die Engländer zwangen, in dus politische
Getriebe der Halbinsel einzugreifen. Es waren die ihre Existenz bedrohenden


Grenzboten III 1893 69
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/553>, abgerufen am 23.11.2024.