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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

Kehren; ob es die Männer entbehren können oder wollen, ist eine andre
Frage.

Völliger teilt auch zwei Aussprüche Wielands mit, in denen sich dieser
gegen den Vorwurf der Schlüpfrigkeit entschuldigt. Am 26. November 1795
sagte er: "Ich weiß nicht, wie mir der Vorwurf gemacht werden konnte, ich
sei ein schlüpfriger Schriftsteller. In meiner Seele ist nichts von dem Stoffe,
der hier gähren müßte, wenn ich das sein sollte. Ein alter Mann, der
Kinder und Enkel um sich herumlaufen hat, ist wohl von allem Kitzel frei.
Ich habe überall Originale kopirt und mich sorgfältig in Acht genommen, der
menschlichen Natur Bocksfüße zu geben, wo sie keine hat. Da hat Weiße in
Leipzig in seinen sonst sehr bewunderten Gedichten weit mehr anstößige Lieder.
Bei mir handeln die Personen ihrem Wesen gemäß, und der Wollüstliug kann
nicht anders sprechen, als ich ihn reden horte. Hätte ich die Menschen so
geschaffen, dann könnten mich Vorwürfe treffen. Aber die hat Gott so ge¬
macht." Einige Tage später sagte er: "Komme ich einst dazu, die Geschichte
meiner Schriften zu schreiben, so werde ich vieles über die mir angeschul¬
digte (sie) Schlüpfrigkeit zu sagen haben. Ich habe besondre Vorstellungen
von den Lg.<zris xlmllioi8 des grauen Altertums. Es waren die ehrwürdigsten
Natnrfeierlichkeiteu. Sobald der Mensch nur ein Glied an seinem Leibe hat,
dessen er sich schämt, hat er seine Unschuld verloren. Man tadelt es, daß nackte
Figuren dn aufgestellt werden, wo Mädchen im Hause sind. Hätte ich nur
recht viel, ich wollte alle meine Zimmer davon anfüllen. Warum ziehen wir
denn den Hunden und Ochsen nicht auch Hosen an? Der heiligste Naturtrieb
ist durch Pfafferei entadelt und verschrieen worden. Um dieser Bigotterie zu
entgegnen, habe ich solche Themen ausgemalt, die ich absichtlich ergriffen habe,
nicht daß sie mir, wie Schiller beliebt zu sagen, unglücklicherweise in die Hände
gefallen wären." Bei einer spätern Gelegenheit wird bemerkt, Bürgers Hohes
Lied habe Wieland stets die widrigste Empfindung verursacht, weil es der Fran
eines andern gegolten hätte. Er dachte und empfand also ganz antik, indem
ihm unsittlich und obscön zwei durchaus verschiedne Begriffe waren.

Nach der Mitte unsers Jahrhunderts trat eine doppelte Wendung ein,
die der Freiheit im allgemeinen und auch in diesem Gebiete nachteilig war.
In der Wissenschaft wurde der Humanismus von den Naturwissenschaften
zurückgedrängt, und mit diesen siegte das praktische Interesse, d. h. ohne Um¬
schweife gesprochen, das Geldiuteresfe über die idealen Interessen. In der
Politik verwandelten sich die Träger des Liberalismus aus Gegnern in Stützen
der Regierungen. Die Führer des gebildete" Bürgerstandes wurden sehr reich
und dadurch eine herrschende Klasse; die mittlern Beamten wurden durch Ge¬
haltserhöhungen und viele noch außerdem durch einen ihren Wünschen ent¬
sprechenden Gang der üußeru Politik mit dem Staate versöhnt. So gerieten
sie in Oppositionsstellung zu den Massen, deren Führer sie bis dahin gewesen


Die ätherische Volksmoral im Drama

Kehren; ob es die Männer entbehren können oder wollen, ist eine andre
Frage.

Völliger teilt auch zwei Aussprüche Wielands mit, in denen sich dieser
gegen den Vorwurf der Schlüpfrigkeit entschuldigt. Am 26. November 1795
sagte er: „Ich weiß nicht, wie mir der Vorwurf gemacht werden konnte, ich
sei ein schlüpfriger Schriftsteller. In meiner Seele ist nichts von dem Stoffe,
der hier gähren müßte, wenn ich das sein sollte. Ein alter Mann, der
Kinder und Enkel um sich herumlaufen hat, ist wohl von allem Kitzel frei.
Ich habe überall Originale kopirt und mich sorgfältig in Acht genommen, der
menschlichen Natur Bocksfüße zu geben, wo sie keine hat. Da hat Weiße in
Leipzig in seinen sonst sehr bewunderten Gedichten weit mehr anstößige Lieder.
Bei mir handeln die Personen ihrem Wesen gemäß, und der Wollüstliug kann
nicht anders sprechen, als ich ihn reden horte. Hätte ich die Menschen so
geschaffen, dann könnten mich Vorwürfe treffen. Aber die hat Gott so ge¬
macht." Einige Tage später sagte er: „Komme ich einst dazu, die Geschichte
meiner Schriften zu schreiben, so werde ich vieles über die mir angeschul¬
digte (sie) Schlüpfrigkeit zu sagen haben. Ich habe besondre Vorstellungen
von den Lg.<zris xlmllioi8 des grauen Altertums. Es waren die ehrwürdigsten
Natnrfeierlichkeiteu. Sobald der Mensch nur ein Glied an seinem Leibe hat,
dessen er sich schämt, hat er seine Unschuld verloren. Man tadelt es, daß nackte
Figuren dn aufgestellt werden, wo Mädchen im Hause sind. Hätte ich nur
recht viel, ich wollte alle meine Zimmer davon anfüllen. Warum ziehen wir
denn den Hunden und Ochsen nicht auch Hosen an? Der heiligste Naturtrieb
ist durch Pfafferei entadelt und verschrieen worden. Um dieser Bigotterie zu
entgegnen, habe ich solche Themen ausgemalt, die ich absichtlich ergriffen habe,
nicht daß sie mir, wie Schiller beliebt zu sagen, unglücklicherweise in die Hände
gefallen wären." Bei einer spätern Gelegenheit wird bemerkt, Bürgers Hohes
Lied habe Wieland stets die widrigste Empfindung verursacht, weil es der Fran
eines andern gegolten hätte. Er dachte und empfand also ganz antik, indem
ihm unsittlich und obscön zwei durchaus verschiedne Begriffe waren.

Nach der Mitte unsers Jahrhunderts trat eine doppelte Wendung ein,
die der Freiheit im allgemeinen und auch in diesem Gebiete nachteilig war.
In der Wissenschaft wurde der Humanismus von den Naturwissenschaften
zurückgedrängt, und mit diesen siegte das praktische Interesse, d. h. ohne Um¬
schweife gesprochen, das Geldiuteresfe über die idealen Interessen. In der
Politik verwandelten sich die Träger des Liberalismus aus Gegnern in Stützen
der Regierungen. Die Führer des gebildete» Bürgerstandes wurden sehr reich
und dadurch eine herrschende Klasse; die mittlern Beamten wurden durch Ge¬
haltserhöhungen und viele noch außerdem durch einen ihren Wünschen ent¬
sprechenden Gang der üußeru Politik mit dem Staate versöhnt. So gerieten
sie in Oppositionsstellung zu den Massen, deren Führer sie bis dahin gewesen


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[0519] Die ätherische Volksmoral im Drama Kehren; ob es die Männer entbehren können oder wollen, ist eine andre Frage. Völliger teilt auch zwei Aussprüche Wielands mit, in denen sich dieser gegen den Vorwurf der Schlüpfrigkeit entschuldigt. Am 26. November 1795 sagte er: „Ich weiß nicht, wie mir der Vorwurf gemacht werden konnte, ich sei ein schlüpfriger Schriftsteller. In meiner Seele ist nichts von dem Stoffe, der hier gähren müßte, wenn ich das sein sollte. Ein alter Mann, der Kinder und Enkel um sich herumlaufen hat, ist wohl von allem Kitzel frei. Ich habe überall Originale kopirt und mich sorgfältig in Acht genommen, der menschlichen Natur Bocksfüße zu geben, wo sie keine hat. Da hat Weiße in Leipzig in seinen sonst sehr bewunderten Gedichten weit mehr anstößige Lieder. Bei mir handeln die Personen ihrem Wesen gemäß, und der Wollüstliug kann nicht anders sprechen, als ich ihn reden horte. Hätte ich die Menschen so geschaffen, dann könnten mich Vorwürfe treffen. Aber die hat Gott so ge¬ macht." Einige Tage später sagte er: „Komme ich einst dazu, die Geschichte meiner Schriften zu schreiben, so werde ich vieles über die mir angeschul¬ digte (sie) Schlüpfrigkeit zu sagen haben. Ich habe besondre Vorstellungen von den Lg.<zris xlmllioi8 des grauen Altertums. Es waren die ehrwürdigsten Natnrfeierlichkeiteu. Sobald der Mensch nur ein Glied an seinem Leibe hat, dessen er sich schämt, hat er seine Unschuld verloren. Man tadelt es, daß nackte Figuren dn aufgestellt werden, wo Mädchen im Hause sind. Hätte ich nur recht viel, ich wollte alle meine Zimmer davon anfüllen. Warum ziehen wir denn den Hunden und Ochsen nicht auch Hosen an? Der heiligste Naturtrieb ist durch Pfafferei entadelt und verschrieen worden. Um dieser Bigotterie zu entgegnen, habe ich solche Themen ausgemalt, die ich absichtlich ergriffen habe, nicht daß sie mir, wie Schiller beliebt zu sagen, unglücklicherweise in die Hände gefallen wären." Bei einer spätern Gelegenheit wird bemerkt, Bürgers Hohes Lied habe Wieland stets die widrigste Empfindung verursacht, weil es der Fran eines andern gegolten hätte. Er dachte und empfand also ganz antik, indem ihm unsittlich und obscön zwei durchaus verschiedne Begriffe waren. Nach der Mitte unsers Jahrhunderts trat eine doppelte Wendung ein, die der Freiheit im allgemeinen und auch in diesem Gebiete nachteilig war. In der Wissenschaft wurde der Humanismus von den Naturwissenschaften zurückgedrängt, und mit diesen siegte das praktische Interesse, d. h. ohne Um¬ schweife gesprochen, das Geldiuteresfe über die idealen Interessen. In der Politik verwandelten sich die Träger des Liberalismus aus Gegnern in Stützen der Regierungen. Die Führer des gebildete» Bürgerstandes wurden sehr reich und dadurch eine herrschende Klasse; die mittlern Beamten wurden durch Ge¬ haltserhöhungen und viele noch außerdem durch einen ihren Wünschen ent¬ sprechenden Gang der üußeru Politik mit dem Staate versöhnt. So gerieten sie in Oppositionsstellung zu den Massen, deren Führer sie bis dahin gewesen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/519>, abgerufen am 24.11.2024.