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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

Und ist es denkbar, daß in dem Menschen, der das Menschenantlitz und die
Menschengestalt im Kunstwerke bewundert, nicht der Wunsch aufstiege, beides
auch lebendig schauen zu können? Und wird nicht in manchem schon beim
Anblick einer schönen Landschaft der Wunsch rege, den Werther in der Schweiz
ausspricht, als er seinen Freund einladet, im See zu baden? Da haben die
Asketen die Menschennatur besser durchschaut! Sie wissen: wer sich einmal
auf die Freude am Schönen einläßt, der wird bald alles Schöne zu schauen
begehren, das es auf Erden giebt; und daher wagen sie außer den vier kahlen
Wänden ihrer Zelle, einem Kruzifix und etwa einem Bilde, das die Qualen
der Verdammten darstellt, nichts anzusehen, wenn sie sich nicht gar zur Sicher¬
heit die Augen ausstechen. Und wenn ein dritter Ethiker ganz allgemein sagt,
man dürfe im Weibe nicht das Weib, sondern immer nur die Person sehen,
dann muß man solche Herren doch fragen, warum sie nicht statt eines jungen
Mädchens einen alten Professor geheiratet haben, da doch alte Professoren
gehaltvollere und interessantere Personen zu sein pflegen als junge Mädchen.

Das ganze Mittelnlter hindurch hat es weder an Erotik noch an stellen¬
weise recht unflätiger Konnt gefehlt, aber beides stand in ausgesprochnen
Gegensatze zum Kirchenglauben und zu der theoretisch geltenden Moral. Die
Wiedererweckung des klassischen Altertums stellte nicht allein die Einheit zwischen
Theorie und Praxis wieder her -- ans Kosten des Kirchenglaubeus --, sondern
die von der Kirchenmoral befreiten Geister ergaben sich völliger Zügellosigkeit
und schritten über die Schönheitstrunkenheit und schalkhafte Natürlichkeit der
Alten zur Frechheit des methodisch geübten Lasters fort. Luther verurteilte
zwar die Liederlichkeit, war aber mit den Humanisten darin einig, daß er die
Askese nebst der bigotten Ängstlichkeit und der Skrupulosität verwarf und der
Natur ihr Recht zugestand. Nachdem ein zweitesmal zwar nicht der Geist
das Fleisch, aber die Dogmatik den Humanismus besiegt hatte, reagirte dieser
nochmals und setzte wiederum die Natur in ihr Recht ein. Diesmal, in Deutsch¬
land wenigstens, ohne der Zügellosigkeit zu verfallen. Nicht die Polizei und
uicht die Konvention der Gesellschaft haben unsern Klassikern das Maß ge¬
geben, sondern sie haben es, echt hellenisch, in sich selbst gefunden. Die hier
vorliegende Frage haben sie um selbstverständlich im Sinne der Griechen ent¬
schieden. Goethe -- so erzählt Eckermann unterm 25. Februar 1824 -- zeigte
mir heute zwei höchst merkwürdige Gedichte, beide in hohem Grade sittlich in
ihrer Tendenz, in einzelnen Motiven jedoch so ohne allen Rückhalt natürlich
und wahr, daß die Welt dergleichen unsittlich zu nennen pflegt, weshalb er
sie denn auch geheim hielt und um eine öffentliche Mitteilung nicht dachte.
"Könnten Geist und höhere Bildung -- sagte er -- ein Gemeingut werden,
so hätte der Dichter ein gutes Spiel; er könnte immer durchaus wahr sein
und brauchte sich nicht zu scheuen, das Beste zu sagen. So aber muß er sich
immer in einem gewissen Niveau halten; er hat zu bedenken, daß seine Werke


Die ätherische Volksmoral im Drama

Und ist es denkbar, daß in dem Menschen, der das Menschenantlitz und die
Menschengestalt im Kunstwerke bewundert, nicht der Wunsch aufstiege, beides
auch lebendig schauen zu können? Und wird nicht in manchem schon beim
Anblick einer schönen Landschaft der Wunsch rege, den Werther in der Schweiz
ausspricht, als er seinen Freund einladet, im See zu baden? Da haben die
Asketen die Menschennatur besser durchschaut! Sie wissen: wer sich einmal
auf die Freude am Schönen einläßt, der wird bald alles Schöne zu schauen
begehren, das es auf Erden giebt; und daher wagen sie außer den vier kahlen
Wänden ihrer Zelle, einem Kruzifix und etwa einem Bilde, das die Qualen
der Verdammten darstellt, nichts anzusehen, wenn sie sich nicht gar zur Sicher¬
heit die Augen ausstechen. Und wenn ein dritter Ethiker ganz allgemein sagt,
man dürfe im Weibe nicht das Weib, sondern immer nur die Person sehen,
dann muß man solche Herren doch fragen, warum sie nicht statt eines jungen
Mädchens einen alten Professor geheiratet haben, da doch alte Professoren
gehaltvollere und interessantere Personen zu sein pflegen als junge Mädchen.

Das ganze Mittelnlter hindurch hat es weder an Erotik noch an stellen¬
weise recht unflätiger Konnt gefehlt, aber beides stand in ausgesprochnen
Gegensatze zum Kirchenglauben und zu der theoretisch geltenden Moral. Die
Wiedererweckung des klassischen Altertums stellte nicht allein die Einheit zwischen
Theorie und Praxis wieder her — ans Kosten des Kirchenglaubeus —, sondern
die von der Kirchenmoral befreiten Geister ergaben sich völliger Zügellosigkeit
und schritten über die Schönheitstrunkenheit und schalkhafte Natürlichkeit der
Alten zur Frechheit des methodisch geübten Lasters fort. Luther verurteilte
zwar die Liederlichkeit, war aber mit den Humanisten darin einig, daß er die
Askese nebst der bigotten Ängstlichkeit und der Skrupulosität verwarf und der
Natur ihr Recht zugestand. Nachdem ein zweitesmal zwar nicht der Geist
das Fleisch, aber die Dogmatik den Humanismus besiegt hatte, reagirte dieser
nochmals und setzte wiederum die Natur in ihr Recht ein. Diesmal, in Deutsch¬
land wenigstens, ohne der Zügellosigkeit zu verfallen. Nicht die Polizei und
uicht die Konvention der Gesellschaft haben unsern Klassikern das Maß ge¬
geben, sondern sie haben es, echt hellenisch, in sich selbst gefunden. Die hier
vorliegende Frage haben sie um selbstverständlich im Sinne der Griechen ent¬
schieden. Goethe — so erzählt Eckermann unterm 25. Februar 1824 — zeigte
mir heute zwei höchst merkwürdige Gedichte, beide in hohem Grade sittlich in
ihrer Tendenz, in einzelnen Motiven jedoch so ohne allen Rückhalt natürlich
und wahr, daß die Welt dergleichen unsittlich zu nennen pflegt, weshalb er
sie denn auch geheim hielt und um eine öffentliche Mitteilung nicht dachte.
„Könnten Geist und höhere Bildung — sagte er — ein Gemeingut werden,
so hätte der Dichter ein gutes Spiel; er könnte immer durchaus wahr sein
und brauchte sich nicht zu scheuen, das Beste zu sagen. So aber muß er sich
immer in einem gewissen Niveau halten; er hat zu bedenken, daß seine Werke


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/517>, abgerufen am 28.07.2024.