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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Zoten nicht bloß von dem oben hervorgehobnen Gesichtspunkte aus, sondern
an sich zuwider.

Beiläufig -- es gehört eigentlich nicht zu unserm Thema -- in A. E.
hat Bischer, wohl ohne es zu wollen, ganz prächtig den modernen Bildungs-
hvchmut gezeichnet. A. E. ist Vogt, was etwa dem preußischen Landrat zu
entsprechen scheint, und hält sich als solcher für verpflichtet, alle "Zuchtlosig¬
keit" mit drakonischer Strenge zu zügeln, und darin sieht er das einzige Heil¬
mittel der kranken Zeit. Dabei aber ist er selbst das Urbild aller Zuchtlosigkeit;
jedes unbedeutende Hindernis macht ihn dermaßen rasend, daß er die Besinnung
und Selbstbeherrschung vollständig verliert, wie ein Verrückter flucht und tobt,
sogar lebendige Hunde zum Fenster hinauswirft, die vorübergehenden Ex¬
zellenzen auf den Kopf fallen. Wer über solche kleine Hindernisse nicht wütend
werde, sagt er, dem sei es nicht Ernst mit der Arbeit; ihm aber sei es sehr
Ernst. Aber in welcher ernsten Arbeit hatte ihn denn das Tafelgeschirr gestört,
das er auf einer Vergnügungsreise in Göschcnen zum Fenster hinauswirft, den
Gassenbuben, selbst Gassenbube, einen Spaß bereitend? Thut der moderne
Gebildete etwas, was am gemeinen Manne gestraft wird, so will er nicht allein
straflos ausgehen, sondern auch noch dafür gelobt werden, denn, was er auch
thue, er thut es stets aus idealen Beweggründen oder zu einem löblichen Zwecke,
und sein Zweck heiligt immer das Mittel. Die "Zuchtlosigkeit" des gemeinen
Mannes ist gewöhnlich ein Ausschlagen gegen Fesseln, die ihn doppelt schmerzlich
drücken, weil sein ganzes Leben eine Kette von Widerwärtigkeiten, Hindernissen
und leiblichen Unlustgefühlen ist. A. E. aber will sich auch nicht die kleinste
Unbequemlichkeit gefallen lassen; er hält es für selbstverständlich, das; kein Mensch
eines Kunstgenusses oder einer sonstigen idealen Erhebung teilhaftig werden
könne, den sein Stiefel drückt, und von einem Kultus, den der gebildete Mann
mit seiner Gegenwart beehren soll, fordert er, daß die Kirche schön und warm
und mit reiner Luft erfüllt, aber frei von aller Zugluft sei. "Wer diese Auf¬
gabe löst, wird einer der größten Wohlthäter der Menschheit sein. Ist dies
erst endcckt, so werden die Menschen milder, lauuenloser, klarer, gemütsfreier,
sie werden besser, sie werden edler sein." Richtig! Befindet sich der gebildete
Mann im Zustande höchsten leiblichen Behagens, so ist er guter Laune und
fühlt sich nicht versucht, jemanden totzuschlagen oder seiner Frau einen Teller
an den Kops zu werfen. Das gilt aber nur für den gebildeten Mann. Der
Bergmann, der nicht länger als acht Stunden in der Stickluft und Hitze eines
Bergwerks, der Töpfergeselle, der nicht zwölf Stunden lang bei naßkalten
Wetter in einem Neubau mit unverglasten Fenstern arbeiten will, die sind
"zuchtlos" und müssen mit drakonischer Strenge behandelt werden. A. E. er¬
wähnt solche Fülle nicht, aber er würde auch da seinem Charakter nach ohne
Zweifel einen schneidigen Landrat abgegeben haben.

Hören wir noch einen andern Ästhetiker, nicht über das Obseöne, sondern


Zoten nicht bloß von dem oben hervorgehobnen Gesichtspunkte aus, sondern
an sich zuwider.

Beiläufig — es gehört eigentlich nicht zu unserm Thema — in A. E.
hat Bischer, wohl ohne es zu wollen, ganz prächtig den modernen Bildungs-
hvchmut gezeichnet. A. E. ist Vogt, was etwa dem preußischen Landrat zu
entsprechen scheint, und hält sich als solcher für verpflichtet, alle „Zuchtlosig¬
keit" mit drakonischer Strenge zu zügeln, und darin sieht er das einzige Heil¬
mittel der kranken Zeit. Dabei aber ist er selbst das Urbild aller Zuchtlosigkeit;
jedes unbedeutende Hindernis macht ihn dermaßen rasend, daß er die Besinnung
und Selbstbeherrschung vollständig verliert, wie ein Verrückter flucht und tobt,
sogar lebendige Hunde zum Fenster hinauswirft, die vorübergehenden Ex¬
zellenzen auf den Kopf fallen. Wer über solche kleine Hindernisse nicht wütend
werde, sagt er, dem sei es nicht Ernst mit der Arbeit; ihm aber sei es sehr
Ernst. Aber in welcher ernsten Arbeit hatte ihn denn das Tafelgeschirr gestört,
das er auf einer Vergnügungsreise in Göschcnen zum Fenster hinauswirft, den
Gassenbuben, selbst Gassenbube, einen Spaß bereitend? Thut der moderne
Gebildete etwas, was am gemeinen Manne gestraft wird, so will er nicht allein
straflos ausgehen, sondern auch noch dafür gelobt werden, denn, was er auch
thue, er thut es stets aus idealen Beweggründen oder zu einem löblichen Zwecke,
und sein Zweck heiligt immer das Mittel. Die „Zuchtlosigkeit" des gemeinen
Mannes ist gewöhnlich ein Ausschlagen gegen Fesseln, die ihn doppelt schmerzlich
drücken, weil sein ganzes Leben eine Kette von Widerwärtigkeiten, Hindernissen
und leiblichen Unlustgefühlen ist. A. E. aber will sich auch nicht die kleinste
Unbequemlichkeit gefallen lassen; er hält es für selbstverständlich, das; kein Mensch
eines Kunstgenusses oder einer sonstigen idealen Erhebung teilhaftig werden
könne, den sein Stiefel drückt, und von einem Kultus, den der gebildete Mann
mit seiner Gegenwart beehren soll, fordert er, daß die Kirche schön und warm
und mit reiner Luft erfüllt, aber frei von aller Zugluft sei. „Wer diese Auf¬
gabe löst, wird einer der größten Wohlthäter der Menschheit sein. Ist dies
erst endcckt, so werden die Menschen milder, lauuenloser, klarer, gemütsfreier,
sie werden besser, sie werden edler sein." Richtig! Befindet sich der gebildete
Mann im Zustande höchsten leiblichen Behagens, so ist er guter Laune und
fühlt sich nicht versucht, jemanden totzuschlagen oder seiner Frau einen Teller
an den Kops zu werfen. Das gilt aber nur für den gebildeten Mann. Der
Bergmann, der nicht länger als acht Stunden in der Stickluft und Hitze eines
Bergwerks, der Töpfergeselle, der nicht zwölf Stunden lang bei naßkalten
Wetter in einem Neubau mit unverglasten Fenstern arbeiten will, die sind
„zuchtlos" und müssen mit drakonischer Strenge behandelt werden. A. E. er¬
wähnt solche Fülle nicht, aber er würde auch da seinem Charakter nach ohne
Zweifel einen schneidigen Landrat abgegeben haben.

Hören wir noch einen andern Ästhetiker, nicht über das Obseöne, sondern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/515>, abgerufen am 27.11.2024.