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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

solches Erfülltsein auch bei den Gläubigen umsomehr voraussetzen durften, da
ja die Christenheit die Wiederkunft des Herrn und den Weltuntergang er¬
wartete. Unter solchen Umstanden ziemte keine andre als die ernste, erhabne
und heilige Stimmung, die nicht bloß durch unanständige, sondern schon durch
überflüssige und harmlose Scherze entweiht worden wäre; jedenfalls "gehörte
dergleichen nicht zur Sache" et,^xo^" nennt der Apostel die Späße), denn
es gab nur eine Sache, und die hatte schlechterdings keine spaßhafte Seite.
Allein die Natur des Durchschnittsmenschen hält eine solche Überspannung
nicht lange aus. Schon in den allerersten Christengemeinden ist es, nach dem
Zeugnis der beiden Korintherbriefe, mitunter recht wüst zugegangen, und drei-
hnndertfünfzig Jahre später lassen uns die Briefe des Hieronhmns in einen
Abgrund von Gemeinheit und leichtfertiger Charakterlosigkeit blicken, wie ihn
das alte Hellas kaum gekannt hat. In moderner Zeit ist es, wie wir bei
andern Gelegenheiten erwogen haben, mehr der Hochmut einer spiritualistischen,
die Natur verachtenden Philosophie und die Furcht der Vornehmen, sich durch
Natürlichkeit etwas zu- vergeben, was das Unanständige zum Unsittlichen
stempelt.

Daß Menschen von verfeinerten Geschmack aus freien Stücken zu einem
rohem Geschmack zurückkehren sollten, ist natürlich ausgeschlossen, und sowohl
die angedeuteten wie noch andre Zweckmüßigkeitsrücksichten lassen die Verban¬
nung des Zotenhaften aus der Öffentlichkeit und aus der guten Gesellschaft
gerechtfertigt erscheinen. Aber wer das Obseöne nicht bloß aus Zweckmüßig¬
keitsrücksichten meidet, sondern grundsätzlich verdammt, der kommt, sei es auf
dem Wege über den Pessimismus oder auf dem über den Manichäismus, zur
Weltflucht und Askese. Friedrich Bischer hat in seinem Roman "Auch Einer"
einen solchen Grübler, wahrscheinlich sich selbst, gezeichnet. Die Rezensenten
dieses merkwürdigen Romans haben immer nur "den Kampf gegen die Tücke
des Objekts" hervorgehoben. Hätte der Verfasser weiter nichts gewollt als
diesen Kampf schildern, so würde er selbst den Vorwurf verdienen, den er dem
fingirten Erzähler in den Mund legt: A. E., der närrische Kanz, bausche
Kleinigkeiten zu der das Leben beherrschenden Hauptsache auf. Für das tragi¬
komische Schnupfenleid wäre ein Scherzgedicht von zehn Seiten lang genug;
ihm einen Roman von achthundert Seiten widmen, wäre ein heilloser Unfug.
Aber das Werk enthält die atheistische Philosophie Wischers im humoristischen
Gewände. Die Natur ist ihm ein halb böses, halb gutes Wesen, ein dämo¬
nisches, aus Güte und Bosheit, aus Schöpferdrang und unvernünftiger, launen¬
hafter Zerstörungswut zusammengesetztes Weib, aus dessen Schoße sich der
Geist des Menschen erhebt, um auf der Naturgrundlage "ein oberes Stock¬
werk" aufzubauen. Die Naturgeister aber, teuflische Zwerge, hassen den
Menschen, "weil er über die Natur aufsteigt, lichte Ordnungen gründet." Mit
diesem obern Stockwerke steht es freilich sehr wacklig, nach dem Urteile, das


Grenzboten III 1693 64
Die ätherische Volksmoral im Drama

solches Erfülltsein auch bei den Gläubigen umsomehr voraussetzen durften, da
ja die Christenheit die Wiederkunft des Herrn und den Weltuntergang er¬
wartete. Unter solchen Umstanden ziemte keine andre als die ernste, erhabne
und heilige Stimmung, die nicht bloß durch unanständige, sondern schon durch
überflüssige und harmlose Scherze entweiht worden wäre; jedenfalls „gehörte
dergleichen nicht zur Sache" et,^xo^« nennt der Apostel die Späße), denn
es gab nur eine Sache, und die hatte schlechterdings keine spaßhafte Seite.
Allein die Natur des Durchschnittsmenschen hält eine solche Überspannung
nicht lange aus. Schon in den allerersten Christengemeinden ist es, nach dem
Zeugnis der beiden Korintherbriefe, mitunter recht wüst zugegangen, und drei-
hnndertfünfzig Jahre später lassen uns die Briefe des Hieronhmns in einen
Abgrund von Gemeinheit und leichtfertiger Charakterlosigkeit blicken, wie ihn
das alte Hellas kaum gekannt hat. In moderner Zeit ist es, wie wir bei
andern Gelegenheiten erwogen haben, mehr der Hochmut einer spiritualistischen,
die Natur verachtenden Philosophie und die Furcht der Vornehmen, sich durch
Natürlichkeit etwas zu- vergeben, was das Unanständige zum Unsittlichen
stempelt.

Daß Menschen von verfeinerten Geschmack aus freien Stücken zu einem
rohem Geschmack zurückkehren sollten, ist natürlich ausgeschlossen, und sowohl
die angedeuteten wie noch andre Zweckmüßigkeitsrücksichten lassen die Verban¬
nung des Zotenhaften aus der Öffentlichkeit und aus der guten Gesellschaft
gerechtfertigt erscheinen. Aber wer das Obseöne nicht bloß aus Zweckmüßig¬
keitsrücksichten meidet, sondern grundsätzlich verdammt, der kommt, sei es auf
dem Wege über den Pessimismus oder auf dem über den Manichäismus, zur
Weltflucht und Askese. Friedrich Bischer hat in seinem Roman „Auch Einer"
einen solchen Grübler, wahrscheinlich sich selbst, gezeichnet. Die Rezensenten
dieses merkwürdigen Romans haben immer nur „den Kampf gegen die Tücke
des Objekts" hervorgehoben. Hätte der Verfasser weiter nichts gewollt als
diesen Kampf schildern, so würde er selbst den Vorwurf verdienen, den er dem
fingirten Erzähler in den Mund legt: A. E., der närrische Kanz, bausche
Kleinigkeiten zu der das Leben beherrschenden Hauptsache auf. Für das tragi¬
komische Schnupfenleid wäre ein Scherzgedicht von zehn Seiten lang genug;
ihm einen Roman von achthundert Seiten widmen, wäre ein heilloser Unfug.
Aber das Werk enthält die atheistische Philosophie Wischers im humoristischen
Gewände. Die Natur ist ihm ein halb böses, halb gutes Wesen, ein dämo¬
nisches, aus Güte und Bosheit, aus Schöpferdrang und unvernünftiger, launen¬
hafter Zerstörungswut zusammengesetztes Weib, aus dessen Schoße sich der
Geist des Menschen erhebt, um auf der Naturgrundlage „ein oberes Stock¬
werk" aufzubauen. Die Naturgeister aber, teuflische Zwerge, hassen den
Menschen, „weil er über die Natur aufsteigt, lichte Ordnungen gründet." Mit
diesem obern Stockwerke steht es freilich sehr wacklig, nach dem Urteile, das


Grenzboten III 1693 64
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[0513] Die ätherische Volksmoral im Drama solches Erfülltsein auch bei den Gläubigen umsomehr voraussetzen durften, da ja die Christenheit die Wiederkunft des Herrn und den Weltuntergang er¬ wartete. Unter solchen Umstanden ziemte keine andre als die ernste, erhabne und heilige Stimmung, die nicht bloß durch unanständige, sondern schon durch überflüssige und harmlose Scherze entweiht worden wäre; jedenfalls „gehörte dergleichen nicht zur Sache" et,^xo^« nennt der Apostel die Späße), denn es gab nur eine Sache, und die hatte schlechterdings keine spaßhafte Seite. Allein die Natur des Durchschnittsmenschen hält eine solche Überspannung nicht lange aus. Schon in den allerersten Christengemeinden ist es, nach dem Zeugnis der beiden Korintherbriefe, mitunter recht wüst zugegangen, und drei- hnndertfünfzig Jahre später lassen uns die Briefe des Hieronhmns in einen Abgrund von Gemeinheit und leichtfertiger Charakterlosigkeit blicken, wie ihn das alte Hellas kaum gekannt hat. In moderner Zeit ist es, wie wir bei andern Gelegenheiten erwogen haben, mehr der Hochmut einer spiritualistischen, die Natur verachtenden Philosophie und die Furcht der Vornehmen, sich durch Natürlichkeit etwas zu- vergeben, was das Unanständige zum Unsittlichen stempelt. Daß Menschen von verfeinerten Geschmack aus freien Stücken zu einem rohem Geschmack zurückkehren sollten, ist natürlich ausgeschlossen, und sowohl die angedeuteten wie noch andre Zweckmüßigkeitsrücksichten lassen die Verban¬ nung des Zotenhaften aus der Öffentlichkeit und aus der guten Gesellschaft gerechtfertigt erscheinen. Aber wer das Obseöne nicht bloß aus Zweckmüßig¬ keitsrücksichten meidet, sondern grundsätzlich verdammt, der kommt, sei es auf dem Wege über den Pessimismus oder auf dem über den Manichäismus, zur Weltflucht und Askese. Friedrich Bischer hat in seinem Roman „Auch Einer" einen solchen Grübler, wahrscheinlich sich selbst, gezeichnet. Die Rezensenten dieses merkwürdigen Romans haben immer nur „den Kampf gegen die Tücke des Objekts" hervorgehoben. Hätte der Verfasser weiter nichts gewollt als diesen Kampf schildern, so würde er selbst den Vorwurf verdienen, den er dem fingirten Erzähler in den Mund legt: A. E., der närrische Kanz, bausche Kleinigkeiten zu der das Leben beherrschenden Hauptsache auf. Für das tragi¬ komische Schnupfenleid wäre ein Scherzgedicht von zehn Seiten lang genug; ihm einen Roman von achthundert Seiten widmen, wäre ein heilloser Unfug. Aber das Werk enthält die atheistische Philosophie Wischers im humoristischen Gewände. Die Natur ist ihm ein halb böses, halb gutes Wesen, ein dämo¬ nisches, aus Güte und Bosheit, aus Schöpferdrang und unvernünftiger, launen¬ hafter Zerstörungswut zusammengesetztes Weib, aus dessen Schoße sich der Geist des Menschen erhebt, um auf der Naturgrundlage „ein oberes Stock¬ werk" aufzubauen. Die Naturgeister aber, teuflische Zwerge, hassen den Menschen, „weil er über die Natur aufsteigt, lichte Ordnungen gründet." Mit diesem obern Stockwerke steht es freilich sehr wacklig, nach dem Urteile, das Grenzboten III 1693 64

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/513>, abgerufen am 28.07.2024.