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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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gewesen, wie man sich heute gewöhnlich vorstellt, dann hätten die Männer über
eine solche Verschwörung doch nur gelacht; das Stück hätte unter solchen Ver¬
hältnissen keinen Sinn gehabt und keine Wirkung erzielt. Die allerunanständigste
Szene des unanständigen Stückes, wo der junge Kinesias sein liebes Myr-
rhinchen bittet, ihm nur ein einziges Stündchen zu schenken, wird nur dadurch
unanständig, daß sie auf der Bühne spielt; im Schlafzimmer wäre sie weiter
nichts als eine Prüfung der Zärtlichkeit und Treue des jungen Gatten, die
abzulegen ihn sein schalkhaftes Weibchen zwingt. Übrigens beobachten die beiden
den Anstand so weit die Zuschauer sind ja im Sinne des Stücks für die
Personen des Schauspiels nicht vorhanden -- daß sie vorher den Sklaven mit
dem Söhnchen fortschicken, das Kinesias mitgebracht hat, damit es die böse
Mutter schön bitte, sie möge doch wieder gut sein und ius Huus zurückkehren,
wo in ihrer Abwesenheit alles zu Grunde geht, und die Hühner das Garn vom
Webstuhl zerren.

Dieses Fortschicken des Kindes erinnert uns daran, daß die Alten nicht
durchaus ohne alle Anstandsregeln gelebt oder, wie später die Cyniker, im
täglichen Verkehr das Unanständige geflissentlich hervorgehoben haben. Als
unanständig gilt es dem Menschen, der sich über bäuerische Roheit ein wenig
erhoben hat, zunächst durch das Ekelhafte, das mit manchen körperlichen Ver¬
richtungen verbunden ist, die Sinne andrer zu beleidigen und sich selbst, als
einen Gegenstand des Ekels, gcwissermnssen bloßzustellen; davon wird nun auch
das Obseöne betroffen, das mit dem Ekelhaften in naher Verbindung steht.
Nur ging das Anstandsgefühl der Alten nicht so weit, daß sie sich zur Ver¬
meidung von Unanständigkeiten unbequemen Zwang auferlegt, eine Verletzung
des Anstandes als Unsittlichkeit oder gar als Verbrechen behandelt und ans
den Genuß der Komik verzichtet hätten, die im Unanständigen liegt. Die ol8
ovaler des Unanständigen und auch des Obscönen beruht auf dem Kontrast
zwischen den zwingenden Bedürfnissen unsrer tierischen Natur und den Herrscher--
ansprüchen unsers Geistes oder der Würde unsrer gesellschaftlichen Stellung;
sie wirkt daher um so stärker, je erhabner die Person und je feierlicher der
Augenblick ist, wenn z. B. ein Potentat als Festredner mit einem unglaublich
dummen Gesichte niesen und das Taschentuch gebrauchen muß. Beim Obseönen
kommt nun allerdings sofort noch eine sittliche Erwägung hinzu, die Anstauds¬
pslicht zu verschärfen. Wenn die Vorstellung sexueller Genüsse in solchen erregt
wird, denen sie uicht oder noch nicht erlaubt sind, so liegt darin eine Ver¬
leitung zum Unrecht. Deshalb haben die Griechen den Jungfrauen und deu
Kindern den Besuch der Komödie verwehrt; nur den Männern , Frauen und
Jünglingen war er erlaubt. Sodann haben sie stets mit feinem Schicklichkeits-
gefühl darauf gehalten, daß das Komische, das Heitere, daher anch das Ob¬
seöne dort uicht eingemischt werde, wo es uicht hingehört. In der Allestis
kommt Herakles zu Admet und bittet um Herberge, Admet verrät es ihm nicht,


gewesen, wie man sich heute gewöhnlich vorstellt, dann hätten die Männer über
eine solche Verschwörung doch nur gelacht; das Stück hätte unter solchen Ver¬
hältnissen keinen Sinn gehabt und keine Wirkung erzielt. Die allerunanständigste
Szene des unanständigen Stückes, wo der junge Kinesias sein liebes Myr-
rhinchen bittet, ihm nur ein einziges Stündchen zu schenken, wird nur dadurch
unanständig, daß sie auf der Bühne spielt; im Schlafzimmer wäre sie weiter
nichts als eine Prüfung der Zärtlichkeit und Treue des jungen Gatten, die
abzulegen ihn sein schalkhaftes Weibchen zwingt. Übrigens beobachten die beiden
den Anstand so weit die Zuschauer sind ja im Sinne des Stücks für die
Personen des Schauspiels nicht vorhanden — daß sie vorher den Sklaven mit
dem Söhnchen fortschicken, das Kinesias mitgebracht hat, damit es die böse
Mutter schön bitte, sie möge doch wieder gut sein und ius Huus zurückkehren,
wo in ihrer Abwesenheit alles zu Grunde geht, und die Hühner das Garn vom
Webstuhl zerren.

Dieses Fortschicken des Kindes erinnert uns daran, daß die Alten nicht
durchaus ohne alle Anstandsregeln gelebt oder, wie später die Cyniker, im
täglichen Verkehr das Unanständige geflissentlich hervorgehoben haben. Als
unanständig gilt es dem Menschen, der sich über bäuerische Roheit ein wenig
erhoben hat, zunächst durch das Ekelhafte, das mit manchen körperlichen Ver¬
richtungen verbunden ist, die Sinne andrer zu beleidigen und sich selbst, als
einen Gegenstand des Ekels, gcwissermnssen bloßzustellen; davon wird nun auch
das Obseöne betroffen, das mit dem Ekelhaften in naher Verbindung steht.
Nur ging das Anstandsgefühl der Alten nicht so weit, daß sie sich zur Ver¬
meidung von Unanständigkeiten unbequemen Zwang auferlegt, eine Verletzung
des Anstandes als Unsittlichkeit oder gar als Verbrechen behandelt und ans
den Genuß der Komik verzichtet hätten, die im Unanständigen liegt. Die ol8
ovaler des Unanständigen und auch des Obscönen beruht auf dem Kontrast
zwischen den zwingenden Bedürfnissen unsrer tierischen Natur und den Herrscher--
ansprüchen unsers Geistes oder der Würde unsrer gesellschaftlichen Stellung;
sie wirkt daher um so stärker, je erhabner die Person und je feierlicher der
Augenblick ist, wenn z. B. ein Potentat als Festredner mit einem unglaublich
dummen Gesichte niesen und das Taschentuch gebrauchen muß. Beim Obseönen
kommt nun allerdings sofort noch eine sittliche Erwägung hinzu, die Anstauds¬
pslicht zu verschärfen. Wenn die Vorstellung sexueller Genüsse in solchen erregt
wird, denen sie uicht oder noch nicht erlaubt sind, so liegt darin eine Ver¬
leitung zum Unrecht. Deshalb haben die Griechen den Jungfrauen und deu
Kindern den Besuch der Komödie verwehrt; nur den Männern , Frauen und
Jünglingen war er erlaubt. Sodann haben sie stets mit feinem Schicklichkeits-
gefühl darauf gehalten, daß das Komische, das Heitere, daher anch das Ob¬
seöne dort uicht eingemischt werde, wo es uicht hingehört. In der Allestis
kommt Herakles zu Admet und bittet um Herberge, Admet verrät es ihm nicht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/511>, abgerufen am 01.09.2024.