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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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'Massenbewegung und Nationalitätenpolitik in Österreich

der Wille und die Einsicht, haben ideelle Anstöße und Beziehungen das
Wirken wirtschaftlicher Gesetze vielfach gekreuzt und gehemmt. Deshalb wäre
es sehr gewagt, vorauszusagen, daß der Kampf des Proletariats gegen das
kapitalistische System, das jetzt die Arbeitermassen der verschiednen Völker zu
einem internationalen Ganzen verknüpft, auf die Dauer die nationalen Gegen¬
satze überbrücken werde. Auch das Bürgerinn: der verschiednen Staaten fühlte
sich, so lange es gegen Königtum und Adel ankämpfte, um sich zur Geltung
zu bringen, von Volk zu Volk eins; auch in dem Katechismus der liberalen
Ideale stand geschrieben, daß die freigewordnen Völker durch ewigen Frieden
verbunden sein würden. Und doch ist es anders geworden. Es ist nicht an¬
zunehmen, daß irgend eine Lehre, irgend ein wirtschaftlicher Zustand jemals
die nationalen Unterschiede ganz verwischen werde. In alle Zukunft wird der
Charakter der verschiednen Nationen bestehen bleiben und eine der dunkeln,
unenträtselbaren Urkräfte der Menschheitsgeschichte bilden. Wenn man für die
österreichischen Dinge die einigermaßen absehbare Zeit dieses und des nächsten Ge¬
schlechts ins Auge faßt, so wird es auch da wesentlich darauf ankommen, welche
Nationalität mit größerer Thatkraft und Klugheit ihr nationales Erbe ver¬
teidigen und vermehren wird. Die Geschichte der Magyaren in unsrer Zeit
spottet aller wirtschaftlichen Berechnungen, aller auf statistischen Tabellen be¬
gründeten Vorhersagungen. Ein Volk, das notorisch wegen des Überschusses
an Todesfällen über die Geburten jahrzehntelang im Rückgange gewesen ist,
das kein Bürgertum hat, hält Millionen von Menschen unter seiner politischen
Botmäßigkeit und steigert seine Kraft zur Zeit durch die teils freiwillige, teils
erzwungne Magyarisirung von Deutschen, Slawen und Romanen. Solche
Thatsachen sollten von denen, die zur nationalen Erziehung der Deutschen
Österreichs beitragen wollen, immer aufs neue hervorgehoben werden. Wenn
man ihnen die Gefahren zeigt, von denen sie bedroht sind, so soll auch die
Überzeugung in ihnen geweckt werden, daß die Kraft, sie zu überwinden, in
ihnen selbst ruht. Die Deutschen führen ohnehin vielzuviel doktrinäres Gepäck
mit sich, wenn sie Politik machen; es ist bedenklich, dies noch durch melancho¬
lische Geschichtsbetrachtungen zu vermehren. Die Deutschen Österreichs haben
einmal einen politischen Fehler begangen, dessen Folgen weit schwerer auf ihnen
lasten, als alle Mißgunst der Verhältnisse, die sich in statistischen Tabellen
ausprägt: das war der Fehler, daß sie mit den Polen nicht ein billiges Ab¬
kommen trafen, sodaß sie selbst Herren bleiben konnten in dem Gebiete der
ehemaligen deutschen Reichs- und Bundesländer. Mit viel größerer politischer
Voraussicht hat es der Herrscher verstanden, mit den Polen als parlamenta¬
rischem Faktor zu rechnen. Und weshalb ließen sich die Deutschen den
Wind aus den Segeln nehmen? Weil sie beharrlich die zentralistische Idee
dem Vorteil ihrer Nationalität voranstellten, weil sie sich als berufne
Hüter der Staatseinheit betrachteten, der auch in Galizien Respekt zu ver-


'Massenbewegung und Nationalitätenpolitik in Österreich

der Wille und die Einsicht, haben ideelle Anstöße und Beziehungen das
Wirken wirtschaftlicher Gesetze vielfach gekreuzt und gehemmt. Deshalb wäre
es sehr gewagt, vorauszusagen, daß der Kampf des Proletariats gegen das
kapitalistische System, das jetzt die Arbeitermassen der verschiednen Völker zu
einem internationalen Ganzen verknüpft, auf die Dauer die nationalen Gegen¬
satze überbrücken werde. Auch das Bürgerinn: der verschiednen Staaten fühlte
sich, so lange es gegen Königtum und Adel ankämpfte, um sich zur Geltung
zu bringen, von Volk zu Volk eins; auch in dem Katechismus der liberalen
Ideale stand geschrieben, daß die freigewordnen Völker durch ewigen Frieden
verbunden sein würden. Und doch ist es anders geworden. Es ist nicht an¬
zunehmen, daß irgend eine Lehre, irgend ein wirtschaftlicher Zustand jemals
die nationalen Unterschiede ganz verwischen werde. In alle Zukunft wird der
Charakter der verschiednen Nationen bestehen bleiben und eine der dunkeln,
unenträtselbaren Urkräfte der Menschheitsgeschichte bilden. Wenn man für die
österreichischen Dinge die einigermaßen absehbare Zeit dieses und des nächsten Ge¬
schlechts ins Auge faßt, so wird es auch da wesentlich darauf ankommen, welche
Nationalität mit größerer Thatkraft und Klugheit ihr nationales Erbe ver¬
teidigen und vermehren wird. Die Geschichte der Magyaren in unsrer Zeit
spottet aller wirtschaftlichen Berechnungen, aller auf statistischen Tabellen be¬
gründeten Vorhersagungen. Ein Volk, das notorisch wegen des Überschusses
an Todesfällen über die Geburten jahrzehntelang im Rückgange gewesen ist,
das kein Bürgertum hat, hält Millionen von Menschen unter seiner politischen
Botmäßigkeit und steigert seine Kraft zur Zeit durch die teils freiwillige, teils
erzwungne Magyarisirung von Deutschen, Slawen und Romanen. Solche
Thatsachen sollten von denen, die zur nationalen Erziehung der Deutschen
Österreichs beitragen wollen, immer aufs neue hervorgehoben werden. Wenn
man ihnen die Gefahren zeigt, von denen sie bedroht sind, so soll auch die
Überzeugung in ihnen geweckt werden, daß die Kraft, sie zu überwinden, in
ihnen selbst ruht. Die Deutschen führen ohnehin vielzuviel doktrinäres Gepäck
mit sich, wenn sie Politik machen; es ist bedenklich, dies noch durch melancho¬
lische Geschichtsbetrachtungen zu vermehren. Die Deutschen Österreichs haben
einmal einen politischen Fehler begangen, dessen Folgen weit schwerer auf ihnen
lasten, als alle Mißgunst der Verhältnisse, die sich in statistischen Tabellen
ausprägt: das war der Fehler, daß sie mit den Polen nicht ein billiges Ab¬
kommen trafen, sodaß sie selbst Herren bleiben konnten in dem Gebiete der
ehemaligen deutschen Reichs- und Bundesländer. Mit viel größerer politischer
Voraussicht hat es der Herrscher verstanden, mit den Polen als parlamenta¬
rischem Faktor zu rechnen. Und weshalb ließen sich die Deutschen den
Wind aus den Segeln nehmen? Weil sie beharrlich die zentralistische Idee
dem Vorteil ihrer Nationalität voranstellten, weil sie sich als berufne
Hüter der Staatseinheit betrachteten, der auch in Galizien Respekt zu ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/508>, abgerufen am 25.11.2024.