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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Massenbewegung und Nationalitätenpolitik in Österreich

der physischen und sittlichen Hebung ihrer Mitbürger, Sonst werde die ein¬
wandernde, kräftigere Arbeiterschaft, die aus den tschechischen Ackerbaubezirken
komme, den Deutschen wirklich gefährlich werden. So wohlthätig auch das
Wirken des deutschen Schulvereins sei, so sehr die starken politischen Triebe
des deutschböhmischen Bürgertums dem gesamten Volksstamme förderlich seien,
so dürfe man doch nicht vergessen, daß zugleich die soziale Reform, in Nord¬
böhmen ein Gebot der Selbsterhaltung sei. Herkner führt aus Erzählungen
und Gedichten, die in Arbeiterblättern veröffentlicht worden sind, rührende
Beweise von der Anhänglichkeit der Nordböhmcn an ihre Heimat an; die
Agitation der internationalen Sozialdemokratie habe dieses starke Vater¬
landsgefühl nicht abzuschwächen vermocht. Die Liebe zum deutschen Volkstum
und ihre Pflege müsse sich in svzialpcMischen Maßregeln äußern. Gerade die
kommunalen und die Vereinsverbände, die mit dem Volke in nächster Berührung
stehen, könnten durch Volksbibliotheken, Bolksbäder, Fvrtbildnngsunterricht,
Haushaltungsschulen, Arbeitsvermittlung, gewerbliche Schiedsgerichte, Besse-
rung der Wohnungszustände, Reform der Armenpflege, Fürsorge bei Arbeits¬
losigkeit zur Hebung der Volksgesundheit beitragen. So wahr und warm ist
das national vollblütige Bürgertum Nordböhmens noch nie an seine soziale
Pflicht gemahnt worden. Es ist ein Landsmann, von dem dieser Weckruf aus¬
geht; er kann in Deutschböhmeu uicht ungehört verhallen!*)

Man ist im allgemeinen gern geneigt, für politische Wandlungen mehr
fernliegende wirtschaftliche oder gar naturgeschichtliche Ursachen zu suchen und
Entwicklungsgesetze für sie zu konstruiren. Aber diese Methode der Erklä¬
rung ist uicht vollständig. Gerade in der Geschichte der modernen Natio¬
nalitätenidee findet sich ein seltsamer Widerspruch, dessen Erklärung uicht
leicht ist. Man hätte denken sollen, daß die Ausbildung der Verkehrswege,
die wachsende Benutzung von Eisenbahnen und Telegraphen die Menschen
und die Nationen näher bringen, ihre Vorurteile zerstören, ihre Abneigung
gegen einander mildern und den kosmopolitischen Sinn, den das Jahrhundert
Kants, Schillers und Rousseaus als sein Erbe zurückgelassen hat, fördern
werde. Aber das ist nicht geschehen: wohl ist der Deutsche dem Deut¬
schen, der Italiener dem Italiener näher gekommen, aber die Völker sind ein¬
ander fremder und feindseliger geworden. Im Laufe der Geschichte haben



Der Aufsatz erschien zuerst in den "Deutschen Worten," einer Monatsschrift, heraus¬
gegeben in Wien von dem Reichsratsabgeordneteu Engelbert Pernerstorfer (Juniheft 1893),
der Souderabdruck unter dem Titel: "Die Zukunft der Deutschösterreicher" (Wien, Leopold
Weiß). Die "Deutschen Worte" sind eine in Deutschland noch zu wenig beachtete Zeitschrift.
Sie behandelt soziale und nationale Fragen in Aufsätzen, die zum Teil von den berufensten
Schriftstellern nicht bloß Deutschösterreichs herrühren. Der Herausgeber versteht es, durch
Verbindungen auch mit russischen, dänischen, amerikanischen Sozialreformern seiner Zeitschrift
stets einen reiche", anregenden Inhalt zu geben.
Massenbewegung und Nationalitätenpolitik in Österreich

der physischen und sittlichen Hebung ihrer Mitbürger, Sonst werde die ein¬
wandernde, kräftigere Arbeiterschaft, die aus den tschechischen Ackerbaubezirken
komme, den Deutschen wirklich gefährlich werden. So wohlthätig auch das
Wirken des deutschen Schulvereins sei, so sehr die starken politischen Triebe
des deutschböhmischen Bürgertums dem gesamten Volksstamme förderlich seien,
so dürfe man doch nicht vergessen, daß zugleich die soziale Reform, in Nord¬
böhmen ein Gebot der Selbsterhaltung sei. Herkner führt aus Erzählungen
und Gedichten, die in Arbeiterblättern veröffentlicht worden sind, rührende
Beweise von der Anhänglichkeit der Nordböhmcn an ihre Heimat an; die
Agitation der internationalen Sozialdemokratie habe dieses starke Vater¬
landsgefühl nicht abzuschwächen vermocht. Die Liebe zum deutschen Volkstum
und ihre Pflege müsse sich in svzialpcMischen Maßregeln äußern. Gerade die
kommunalen und die Vereinsverbände, die mit dem Volke in nächster Berührung
stehen, könnten durch Volksbibliotheken, Bolksbäder, Fvrtbildnngsunterricht,
Haushaltungsschulen, Arbeitsvermittlung, gewerbliche Schiedsgerichte, Besse-
rung der Wohnungszustände, Reform der Armenpflege, Fürsorge bei Arbeits¬
losigkeit zur Hebung der Volksgesundheit beitragen. So wahr und warm ist
das national vollblütige Bürgertum Nordböhmens noch nie an seine soziale
Pflicht gemahnt worden. Es ist ein Landsmann, von dem dieser Weckruf aus¬
geht; er kann in Deutschböhmeu uicht ungehört verhallen!*)

Man ist im allgemeinen gern geneigt, für politische Wandlungen mehr
fernliegende wirtschaftliche oder gar naturgeschichtliche Ursachen zu suchen und
Entwicklungsgesetze für sie zu konstruiren. Aber diese Methode der Erklä¬
rung ist uicht vollständig. Gerade in der Geschichte der modernen Natio¬
nalitätenidee findet sich ein seltsamer Widerspruch, dessen Erklärung uicht
leicht ist. Man hätte denken sollen, daß die Ausbildung der Verkehrswege,
die wachsende Benutzung von Eisenbahnen und Telegraphen die Menschen
und die Nationen näher bringen, ihre Vorurteile zerstören, ihre Abneigung
gegen einander mildern und den kosmopolitischen Sinn, den das Jahrhundert
Kants, Schillers und Rousseaus als sein Erbe zurückgelassen hat, fördern
werde. Aber das ist nicht geschehen: wohl ist der Deutsche dem Deut¬
schen, der Italiener dem Italiener näher gekommen, aber die Völker sind ein¬
ander fremder und feindseliger geworden. Im Laufe der Geschichte haben



Der Aufsatz erschien zuerst in den „Deutschen Worten," einer Monatsschrift, heraus¬
gegeben in Wien von dem Reichsratsabgeordneteu Engelbert Pernerstorfer (Juniheft 1893),
der Souderabdruck unter dem Titel: „Die Zukunft der Deutschösterreicher" (Wien, Leopold
Weiß). Die „Deutschen Worte" sind eine in Deutschland noch zu wenig beachtete Zeitschrift.
Sie behandelt soziale und nationale Fragen in Aufsätzen, die zum Teil von den berufensten
Schriftstellern nicht bloß Deutschösterreichs herrühren. Der Herausgeber versteht es, durch
Verbindungen auch mit russischen, dänischen, amerikanischen Sozialreformern seiner Zeitschrift
stets einen reiche», anregenden Inhalt zu geben.
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[0507] Massenbewegung und Nationalitätenpolitik in Österreich der physischen und sittlichen Hebung ihrer Mitbürger, Sonst werde die ein¬ wandernde, kräftigere Arbeiterschaft, die aus den tschechischen Ackerbaubezirken komme, den Deutschen wirklich gefährlich werden. So wohlthätig auch das Wirken des deutschen Schulvereins sei, so sehr die starken politischen Triebe des deutschböhmischen Bürgertums dem gesamten Volksstamme förderlich seien, so dürfe man doch nicht vergessen, daß zugleich die soziale Reform, in Nord¬ böhmen ein Gebot der Selbsterhaltung sei. Herkner führt aus Erzählungen und Gedichten, die in Arbeiterblättern veröffentlicht worden sind, rührende Beweise von der Anhänglichkeit der Nordböhmcn an ihre Heimat an; die Agitation der internationalen Sozialdemokratie habe dieses starke Vater¬ landsgefühl nicht abzuschwächen vermocht. Die Liebe zum deutschen Volkstum und ihre Pflege müsse sich in svzialpcMischen Maßregeln äußern. Gerade die kommunalen und die Vereinsverbände, die mit dem Volke in nächster Berührung stehen, könnten durch Volksbibliotheken, Bolksbäder, Fvrtbildnngsunterricht, Haushaltungsschulen, Arbeitsvermittlung, gewerbliche Schiedsgerichte, Besse- rung der Wohnungszustände, Reform der Armenpflege, Fürsorge bei Arbeits¬ losigkeit zur Hebung der Volksgesundheit beitragen. So wahr und warm ist das national vollblütige Bürgertum Nordböhmens noch nie an seine soziale Pflicht gemahnt worden. Es ist ein Landsmann, von dem dieser Weckruf aus¬ geht; er kann in Deutschböhmeu uicht ungehört verhallen!*) Man ist im allgemeinen gern geneigt, für politische Wandlungen mehr fernliegende wirtschaftliche oder gar naturgeschichtliche Ursachen zu suchen und Entwicklungsgesetze für sie zu konstruiren. Aber diese Methode der Erklä¬ rung ist uicht vollständig. Gerade in der Geschichte der modernen Natio¬ nalitätenidee findet sich ein seltsamer Widerspruch, dessen Erklärung uicht leicht ist. Man hätte denken sollen, daß die Ausbildung der Verkehrswege, die wachsende Benutzung von Eisenbahnen und Telegraphen die Menschen und die Nationen näher bringen, ihre Vorurteile zerstören, ihre Abneigung gegen einander mildern und den kosmopolitischen Sinn, den das Jahrhundert Kants, Schillers und Rousseaus als sein Erbe zurückgelassen hat, fördern werde. Aber das ist nicht geschehen: wohl ist der Deutsche dem Deut¬ schen, der Italiener dem Italiener näher gekommen, aber die Völker sind ein¬ ander fremder und feindseliger geworden. Im Laufe der Geschichte haben Der Aufsatz erschien zuerst in den „Deutschen Worten," einer Monatsschrift, heraus¬ gegeben in Wien von dem Reichsratsabgeordneteu Engelbert Pernerstorfer (Juniheft 1893), der Souderabdruck unter dem Titel: „Die Zukunft der Deutschösterreicher" (Wien, Leopold Weiß). Die „Deutschen Worte" sind eine in Deutschland noch zu wenig beachtete Zeitschrift. Sie behandelt soziale und nationale Fragen in Aufsätzen, die zum Teil von den berufensten Schriftstellern nicht bloß Deutschösterreichs herrühren. Der Herausgeber versteht es, durch Verbindungen auch mit russischen, dänischen, amerikanischen Sozialreformern seiner Zeitschrift stets einen reiche», anregenden Inhalt zu geben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/507>, abgerufen am 25.11.2024.