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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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tschechische Führer Sladovskh in einem lichten Augenblick der Selbsterkenntnis
ausdrückte, nach der Gründung des deutschen Reiches die weitere Schwierigkeit
herausgestellt hätte, daß die Tschechen zuvor anderthalb, jetzt gar drei Mil¬
lionen Bajonette zu verschlucken Hütten. Es wäre ungerecht, wenn man Hainisch
vorwerfen wollte, er habe diese Thatsache vernachlässigt. Aber sie sollte doch
kräftiger in den Mittelpunkt der politischen Betrachtung gestellt sein.

Hainisch stellt nun fest, daß an Geburtsüberschüsseu in den rein deutschen
Bezirken 5,17 auf je 1000 Einwohner fallen, während die Nordstrom 10,09,
die Slowenen 7,73, die Welschtiroler 5,92 pro Mille aufzuweisen haben.
Die Deutschen sind also stark im Nachteil, besonders gegen die Tschechen, und
das wieder besonders infolge der Verhältnisse in den Alpenlündcrn, wo der Ge¬
burtenüberschuß der Deutschen bloß 2,89 pro Mille beträgt, während sie im
Sudetengebiet doch 6,61 pro Mille zu verzeichnen haben. Woher dieses auf¬
fallende Zurückbleiben der Deutschen? Ist ihre physische Tüchtigkeit etwa ge¬
ringer? Das gewiß nicht, denn es giebt einzelne deutsche Bezirke im Norden,
wo die Geburtsüberschüsse zu den höchsten der Monarchie gehören. Die Frucht¬
barkeit der deutschen Frauen im Alter von fünfzehn bis zu fünfundvierzig
Jahren steht nicht hinter der der andern zurück; zwischen Deutschen und Tsche¬
chinnen ist kein Unterschied bemerklich. Die deutschen Frauen haben nur, be¬
sonders wegen der in den Alpenländern noch vielfach bestehenden Ehebeschrnn-
kuugen, eine geringere eheliche und dafür eine stärkere außereheliche Fruchtbar¬
keit. Die Deutschen in den Alpenländern heiraten infolge der schwierigen
Lebensverhältnisse später, dafür ist aber bei ihnen die Legitimirung der vor¬
ehelichen Kinder sehr häufig, was jedenfalls eine gesunde Lebensauffassung
bezeugt. Auch die Kindersterlllichkeit ist nach den sorgfältig gearbeiteten Tabellen
Hainischs unter den Deutschen im allgemeinen nicht größer als bei den andern
Nationalitäten, wenn sie auch in einzelnen uordböhmischeu Bezirken, wegen der
fast durchgängigen Beschäftigung der Frauen in den Fabriken, zu erschreckenden
Ziffern anwächst, wie im Bezirk Reichenberg, wo unter 100 Kindern 80,9
vor ihrem sechsten Lebensjahre sterben. Aus den Tabellen Hainischs geht
hervor, daß es ausschließlich die geringere Zahl der Eheschließungen unter den
Deutschen ist, die ihren geringern Bevölkerungszuwachs bewirkt. Die unehe¬
lichen Geburten, die den fünften Teil der ehelichen ausmachen, können dieses
Verhältnis nicht ändern. Deutsche, Slowenen und Welschtiroler haben un¬
gefähr dieselbe Zahl der Ehen, aber die Tschechen, bei denen unter 100 gebür-
fühigeu (im Alter von fünfzehn bis fünfundvierzig Jahren stehenden) Frauen
52,80 verheiratet find, überragen bei weitem die Deutschen, unter denen nur
41,50 solche Frauen in der Ehe leben. Und auch hier sind es wieder die
Alpenländer, die die Lage der Deutschen ungünstiger gestalten. Denn Deutsch¬
böhmen mit 48,6 verheirateten Frauen unter 100 gebürfühigen steht obenan,
während Deutschstciermark nur 34,60, Vorarlberg, Salzburg, Deutschtirol noch


tschechische Führer Sladovskh in einem lichten Augenblick der Selbsterkenntnis
ausdrückte, nach der Gründung des deutschen Reiches die weitere Schwierigkeit
herausgestellt hätte, daß die Tschechen zuvor anderthalb, jetzt gar drei Mil¬
lionen Bajonette zu verschlucken Hütten. Es wäre ungerecht, wenn man Hainisch
vorwerfen wollte, er habe diese Thatsache vernachlässigt. Aber sie sollte doch
kräftiger in den Mittelpunkt der politischen Betrachtung gestellt sein.

Hainisch stellt nun fest, daß an Geburtsüberschüsseu in den rein deutschen
Bezirken 5,17 auf je 1000 Einwohner fallen, während die Nordstrom 10,09,
die Slowenen 7,73, die Welschtiroler 5,92 pro Mille aufzuweisen haben.
Die Deutschen sind also stark im Nachteil, besonders gegen die Tschechen, und
das wieder besonders infolge der Verhältnisse in den Alpenlündcrn, wo der Ge¬
burtenüberschuß der Deutschen bloß 2,89 pro Mille beträgt, während sie im
Sudetengebiet doch 6,61 pro Mille zu verzeichnen haben. Woher dieses auf¬
fallende Zurückbleiben der Deutschen? Ist ihre physische Tüchtigkeit etwa ge¬
ringer? Das gewiß nicht, denn es giebt einzelne deutsche Bezirke im Norden,
wo die Geburtsüberschüsse zu den höchsten der Monarchie gehören. Die Frucht¬
barkeit der deutschen Frauen im Alter von fünfzehn bis zu fünfundvierzig
Jahren steht nicht hinter der der andern zurück; zwischen Deutschen und Tsche¬
chinnen ist kein Unterschied bemerklich. Die deutschen Frauen haben nur, be¬
sonders wegen der in den Alpenländern noch vielfach bestehenden Ehebeschrnn-
kuugen, eine geringere eheliche und dafür eine stärkere außereheliche Fruchtbar¬
keit. Die Deutschen in den Alpenländern heiraten infolge der schwierigen
Lebensverhältnisse später, dafür ist aber bei ihnen die Legitimirung der vor¬
ehelichen Kinder sehr häufig, was jedenfalls eine gesunde Lebensauffassung
bezeugt. Auch die Kindersterlllichkeit ist nach den sorgfältig gearbeiteten Tabellen
Hainischs unter den Deutschen im allgemeinen nicht größer als bei den andern
Nationalitäten, wenn sie auch in einzelnen uordböhmischeu Bezirken, wegen der
fast durchgängigen Beschäftigung der Frauen in den Fabriken, zu erschreckenden
Ziffern anwächst, wie im Bezirk Reichenberg, wo unter 100 Kindern 80,9
vor ihrem sechsten Lebensjahre sterben. Aus den Tabellen Hainischs geht
hervor, daß es ausschließlich die geringere Zahl der Eheschließungen unter den
Deutschen ist, die ihren geringern Bevölkerungszuwachs bewirkt. Die unehe¬
lichen Geburten, die den fünften Teil der ehelichen ausmachen, können dieses
Verhältnis nicht ändern. Deutsche, Slowenen und Welschtiroler haben un¬
gefähr dieselbe Zahl der Ehen, aber die Tschechen, bei denen unter 100 gebür-
fühigeu (im Alter von fünfzehn bis fünfundvierzig Jahren stehenden) Frauen
52,80 verheiratet find, überragen bei weitem die Deutschen, unter denen nur
41,50 solche Frauen in der Ehe leben. Und auch hier sind es wieder die
Alpenländer, die die Lage der Deutschen ungünstiger gestalten. Denn Deutsch¬
böhmen mit 48,6 verheirateten Frauen unter 100 gebürfühigen steht obenan,
während Deutschstciermark nur 34,60, Vorarlberg, Salzburg, Deutschtirol noch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/503>, abgerufen am 28.07.2024.