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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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sie aufgeben müßte -- diese ernsten Fragen wären nur in einer eingehenden
Besprechung zu erledigen, wenn sie überhaupt durch Besprechung zu erledigen
sind; die Reformation hat sich mehr in Thaten, in geistigen Thaten, als in
Worten und Besprechungen vollzogen. Mau glaube aber deshalb nicht, es
thue uns eine neue Religion not; uns eben so wenig als dem Zeitalter der
Reformation. Ebenso mochten wir uns schützen gegen den Mißverstand, als
ob unser Zukunftsideal eine Religion nur aus Begriffen wäre; eine solche
eben so wenig wie die Kunstreligion. Wir erinnern hier wieder an einen Aus¬
spruch Goethes, wonach die christliche Religion, "da sie einmal erschienen ist,
nicht wieder verschwinden kann, da sie einmal verkörpert ist, nicht wieder auf¬
gelöst werden mag." Nur das müssen wir sagen: bei den Bahnen, die die
Theologie dem religiösen Bewußtsein vorschreibt, ist es einem denkenden
Menschen unsrer Zeit sehr erschwert, sein Denken und Glauben einigermaßen
in Einklang zu bringen. Und das ist es, weshalb sich die denkfaule Durch¬
schnittsmenge die unvermeidlichen Probleme, die möglichen Konflikte aus dem
Wege schafft, indem sie den Glauben als etwas Überflüssiges auf die Seite
schiebt -- das Denken läßt sich ja nicht ganz vermeiden, man hat es auch
im Berufe, in der Wissenschaft nötig. Das ist es, was die ganze Gesinnung,
die Auffassung alles Wahren und Wertvollen so oberflächlich, so ungründlich
gemacht hat; man steht vor Problemen, vor Aufgaben, vor deu wichtigsten,
entscheidendsten unsers ganzen Seins, und da man fühlt, daß ihre Lösung
schwer, mühevoll, mit Kämpfen und Leiden verbunden ist, daß sie von zwei
streitenden Mächten aufgegeben sind, da man nicht weiß, für welche von beiden
man sich entscheiden oder wie man sie mit einander versöhnen soll, so wählt
man den bequemen Ausweg und kehrt ihnen beiden den Rücken, dem Glauben
zuerst, denn das umgiebt womöglich noch mit einem Schein von "Schneid"
oder vornehmer Vlasirtheit; und wenn man die edelste, schönste Gabe, den
"höhern Sinn, der unsrer Natur gegeben werden soll," weggeworfen hat, dann
behält man meistens vom Denken auch nur noch so viel, wie "für deu Haus¬
bedarf," d. h. für das äußerliche Vorwärtskommen ausreicht. Es ist ein
Elend. Und doch ist es der Weg, den die meisten gehen, wenn auch gewöhn¬
lich nicht mit klarem Bewußtsein. Wenn man sieht, wie sie ihren Geist ein¬
schläfern, abstumpfen, ihn schließlich nur noch das Dasein eines Experimentir-
kaninchcns führen lassen, das auch nur noch auf bestimmte Reize reagirt, da
verwundert man sich freilich nicht mehr, daß die materiellen Interessen das
Feld behalten. Wir sprechen durchaus uicht von den rohen Genußmenschen;
nein, brave, liebenswürdige, gescheite und tüchtige junge Männer schlagen in
der guten Meinung, "vernünftig" zu handeln, diesen Weg des Vermeidens,
des Beiseiteschiebens ein, wenn sie nicht Mut und Kraft genug in sich fühlen,
den Problemen und Konflikten, die unausbleiblich sind, entgegenzutreten und
den Kampf durchzukämpfen.


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sie aufgeben müßte — diese ernsten Fragen wären nur in einer eingehenden
Besprechung zu erledigen, wenn sie überhaupt durch Besprechung zu erledigen
sind; die Reformation hat sich mehr in Thaten, in geistigen Thaten, als in
Worten und Besprechungen vollzogen. Mau glaube aber deshalb nicht, es
thue uns eine neue Religion not; uns eben so wenig als dem Zeitalter der
Reformation. Ebenso mochten wir uns schützen gegen den Mißverstand, als
ob unser Zukunftsideal eine Religion nur aus Begriffen wäre; eine solche
eben so wenig wie die Kunstreligion. Wir erinnern hier wieder an einen Aus¬
spruch Goethes, wonach die christliche Religion, „da sie einmal erschienen ist,
nicht wieder verschwinden kann, da sie einmal verkörpert ist, nicht wieder auf¬
gelöst werden mag." Nur das müssen wir sagen: bei den Bahnen, die die
Theologie dem religiösen Bewußtsein vorschreibt, ist es einem denkenden
Menschen unsrer Zeit sehr erschwert, sein Denken und Glauben einigermaßen
in Einklang zu bringen. Und das ist es, weshalb sich die denkfaule Durch¬
schnittsmenge die unvermeidlichen Probleme, die möglichen Konflikte aus dem
Wege schafft, indem sie den Glauben als etwas Überflüssiges auf die Seite
schiebt — das Denken läßt sich ja nicht ganz vermeiden, man hat es auch
im Berufe, in der Wissenschaft nötig. Das ist es, was die ganze Gesinnung,
die Auffassung alles Wahren und Wertvollen so oberflächlich, so ungründlich
gemacht hat; man steht vor Problemen, vor Aufgaben, vor deu wichtigsten,
entscheidendsten unsers ganzen Seins, und da man fühlt, daß ihre Lösung
schwer, mühevoll, mit Kämpfen und Leiden verbunden ist, daß sie von zwei
streitenden Mächten aufgegeben sind, da man nicht weiß, für welche von beiden
man sich entscheiden oder wie man sie mit einander versöhnen soll, so wählt
man den bequemen Ausweg und kehrt ihnen beiden den Rücken, dem Glauben
zuerst, denn das umgiebt womöglich noch mit einem Schein von „Schneid"
oder vornehmer Vlasirtheit; und wenn man die edelste, schönste Gabe, den
„höhern Sinn, der unsrer Natur gegeben werden soll," weggeworfen hat, dann
behält man meistens vom Denken auch nur noch so viel, wie „für deu Haus¬
bedarf," d. h. für das äußerliche Vorwärtskommen ausreicht. Es ist ein
Elend. Und doch ist es der Weg, den die meisten gehen, wenn auch gewöhn¬
lich nicht mit klarem Bewußtsein. Wenn man sieht, wie sie ihren Geist ein¬
schläfern, abstumpfen, ihn schließlich nur noch das Dasein eines Experimentir-
kaninchcns führen lassen, das auch nur noch auf bestimmte Reize reagirt, da
verwundert man sich freilich nicht mehr, daß die materiellen Interessen das
Feld behalten. Wir sprechen durchaus uicht von den rohen Genußmenschen;
nein, brave, liebenswürdige, gescheite und tüchtige junge Männer schlagen in
der guten Meinung, „vernünftig" zu handeln, diesen Weg des Vermeidens,
des Beiseiteschiebens ein, wenn sie nicht Mut und Kraft genug in sich fühlen,
den Problemen und Konflikten, die unausbleiblich sind, entgegenzutreten und
den Kampf durchzukämpfen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/498>, abgerufen am 28.11.2024.