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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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sondern nur durch Vermittlung der Sinne, und leider hat uns die Erfahrung
gezeigt, wie vielfach die Menschen bei diesem Äußerlichen, der Einwirkung der
Kunst auf die Sinne, stehen bleiben.

So bringt uns denn die Kunst allein auch nicht zum Ziele, sondern läßt
uns auf derselben Stelle, ans der uus die Wissenschaften stehen ließen, bei dem,
quoä Me.L tusrit, in ssusu. Einzig ausgenommen hiervon sind die Philo¬
sophie und die Theologie, und diese beiden sind es ja auch gerade, deren
Rechte wir im Kampfe gegen Gleichgiltigkeit und materielle Stumpfheit ver¬
fechten wollen. Ihr Gebiet ist die Sphäre, die nicht unterhalb des mensch¬
lichen Geistes liegt, wie die Erfahrungswissenschaften und die Erscheinungs¬
welt, sondern oberhalb, die "trauseeudentale." Wer uicht fühlt, daß diese
Sphäre die eigentliche Heimat unsers Geistes ist, daß deshalb hier der Schwer¬
punkt seiner Interessen liegt, wer uicht an seine tmnseendentale Natur, mit
einem Worte: wer nicht an seinen eignen Geist glaubt, vou dem kann man
freilich auch uicht verlangen, daß er an den Ursprung und Zusammenhang
unsers Geistes in und mit einer höhern Einheit, daß er an eine geistige Welt
glaube. Deun wir dürfen nicht vergessen, daß es sich auch in der Philo¬
sophie im letzten Grunde nicht um Beweise, sondern um den philosophischen
Glauben handelt; die Beweise haben in der Logik ihr unbeschränktes Recht,
aber in der Metaphysik und Ethik nnr ein beschränktes, ja nur eine beschränkte
Möglichkeit. Kant sagt in seiner "Kritik der reinen Vernunft" die goldnen
Worte:") "Es bleibt euch noch genug übrig, um die vor der schärfsten Ver¬
nunft gerechtfertigte Sprache eines festen Glaubens zu sprechen, wenn ihr gleich
die des Wissens habt aufgeben müssen,"

Nach der Bedeutung, die wir der Philosophie und Theologie einräumen,
darf nun freilich gefragt werden, ob denn diese beiden Wissenschaften immer
den Ansprüchen genügt haben, die man darnach mit Recht an sie stellen konnte?
Und da können wir leider keine bejahende Antwort geben, namentlich wenn es
sich um unsre Zeit handelt. Die Philosophie hat sich selbst negirt, sofern sie
sich in Skeptizismus verlor; im Pessimismus, dessen einzelne Ideen einer
fruchtbringender" Entwicklung fähig gewesen wären, hat sie Folgerungen ge¬
zogen, die nicht notwendig waren, ja, selbst bei Schopenhauer, mitunter
geradezu einander widersprechen- Doch das Hauptgebrechen unsrer Zeit auf
philosophischem wie auf theologischen Gebiete können wir zusammenfassen in
einen Ausdruck, den Lotze mehrfach anwendet: "die Verehrung der Formen
statt des Inhalts." Inwiefern dieses Wort die Theologie unsrer Zeit trifft,
inwiefern sie dadurch (wenn auch gewiß wider Wissen und Willen) selber mit
Schuld trägt an der Glaubenslosigkeit, welche Wege sie einschlagen müßte,
um ihren großen Aufgaben unsrer Zeit gegenüber zu genügen, welche Wege



"Die zween Kardinalsätze unsrer reinen Vernunft: eS ist ein Gott, eS ist ein künf¬
tiges Leben," drückt es Kant mit seiner großartigen Einfachheit aus.
Grenzboten III 189L 62
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sondern nur durch Vermittlung der Sinne, und leider hat uns die Erfahrung
gezeigt, wie vielfach die Menschen bei diesem Äußerlichen, der Einwirkung der
Kunst auf die Sinne, stehen bleiben.

So bringt uns denn die Kunst allein auch nicht zum Ziele, sondern läßt
uns auf derselben Stelle, ans der uus die Wissenschaften stehen ließen, bei dem,
quoä Me.L tusrit, in ssusu. Einzig ausgenommen hiervon sind die Philo¬
sophie und die Theologie, und diese beiden sind es ja auch gerade, deren
Rechte wir im Kampfe gegen Gleichgiltigkeit und materielle Stumpfheit ver¬
fechten wollen. Ihr Gebiet ist die Sphäre, die nicht unterhalb des mensch¬
lichen Geistes liegt, wie die Erfahrungswissenschaften und die Erscheinungs¬
welt, sondern oberhalb, die „trauseeudentale." Wer uicht fühlt, daß diese
Sphäre die eigentliche Heimat unsers Geistes ist, daß deshalb hier der Schwer¬
punkt seiner Interessen liegt, wer uicht an seine tmnseendentale Natur, mit
einem Worte: wer nicht an seinen eignen Geist glaubt, vou dem kann man
freilich auch uicht verlangen, daß er an den Ursprung und Zusammenhang
unsers Geistes in und mit einer höhern Einheit, daß er an eine geistige Welt
glaube. Deun wir dürfen nicht vergessen, daß es sich auch in der Philo¬
sophie im letzten Grunde nicht um Beweise, sondern um den philosophischen
Glauben handelt; die Beweise haben in der Logik ihr unbeschränktes Recht,
aber in der Metaphysik und Ethik nnr ein beschränktes, ja nur eine beschränkte
Möglichkeit. Kant sagt in seiner „Kritik der reinen Vernunft" die goldnen
Worte:") „Es bleibt euch noch genug übrig, um die vor der schärfsten Ver¬
nunft gerechtfertigte Sprache eines festen Glaubens zu sprechen, wenn ihr gleich
die des Wissens habt aufgeben müssen,"

Nach der Bedeutung, die wir der Philosophie und Theologie einräumen,
darf nun freilich gefragt werden, ob denn diese beiden Wissenschaften immer
den Ansprüchen genügt haben, die man darnach mit Recht an sie stellen konnte?
Und da können wir leider keine bejahende Antwort geben, namentlich wenn es
sich um unsre Zeit handelt. Die Philosophie hat sich selbst negirt, sofern sie
sich in Skeptizismus verlor; im Pessimismus, dessen einzelne Ideen einer
fruchtbringender« Entwicklung fähig gewesen wären, hat sie Folgerungen ge¬
zogen, die nicht notwendig waren, ja, selbst bei Schopenhauer, mitunter
geradezu einander widersprechen- Doch das Hauptgebrechen unsrer Zeit auf
philosophischem wie auf theologischen Gebiete können wir zusammenfassen in
einen Ausdruck, den Lotze mehrfach anwendet: „die Verehrung der Formen
statt des Inhalts." Inwiefern dieses Wort die Theologie unsrer Zeit trifft,
inwiefern sie dadurch (wenn auch gewiß wider Wissen und Willen) selber mit
Schuld trägt an der Glaubenslosigkeit, welche Wege sie einschlagen müßte,
um ihren großen Aufgaben unsrer Zeit gegenüber zu genügen, welche Wege



„Die zween Kardinalsätze unsrer reinen Vernunft: eS ist ein Gott, eS ist ein künf¬
tiges Leben," drückt es Kant mit seiner großartigen Einfachheit aus.
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[0497] Luisum cor6a! sondern nur durch Vermittlung der Sinne, und leider hat uns die Erfahrung gezeigt, wie vielfach die Menschen bei diesem Äußerlichen, der Einwirkung der Kunst auf die Sinne, stehen bleiben. So bringt uns denn die Kunst allein auch nicht zum Ziele, sondern läßt uns auf derselben Stelle, ans der uus die Wissenschaften stehen ließen, bei dem, quoä Me.L tusrit, in ssusu. Einzig ausgenommen hiervon sind die Philo¬ sophie und die Theologie, und diese beiden sind es ja auch gerade, deren Rechte wir im Kampfe gegen Gleichgiltigkeit und materielle Stumpfheit ver¬ fechten wollen. Ihr Gebiet ist die Sphäre, die nicht unterhalb des mensch¬ lichen Geistes liegt, wie die Erfahrungswissenschaften und die Erscheinungs¬ welt, sondern oberhalb, die „trauseeudentale." Wer uicht fühlt, daß diese Sphäre die eigentliche Heimat unsers Geistes ist, daß deshalb hier der Schwer¬ punkt seiner Interessen liegt, wer uicht an seine tmnseendentale Natur, mit einem Worte: wer nicht an seinen eignen Geist glaubt, vou dem kann man freilich auch uicht verlangen, daß er an den Ursprung und Zusammenhang unsers Geistes in und mit einer höhern Einheit, daß er an eine geistige Welt glaube. Deun wir dürfen nicht vergessen, daß es sich auch in der Philo¬ sophie im letzten Grunde nicht um Beweise, sondern um den philosophischen Glauben handelt; die Beweise haben in der Logik ihr unbeschränktes Recht, aber in der Metaphysik und Ethik nnr ein beschränktes, ja nur eine beschränkte Möglichkeit. Kant sagt in seiner „Kritik der reinen Vernunft" die goldnen Worte:") „Es bleibt euch noch genug übrig, um die vor der schärfsten Ver¬ nunft gerechtfertigte Sprache eines festen Glaubens zu sprechen, wenn ihr gleich die des Wissens habt aufgeben müssen," Nach der Bedeutung, die wir der Philosophie und Theologie einräumen, darf nun freilich gefragt werden, ob denn diese beiden Wissenschaften immer den Ansprüchen genügt haben, die man darnach mit Recht an sie stellen konnte? Und da können wir leider keine bejahende Antwort geben, namentlich wenn es sich um unsre Zeit handelt. Die Philosophie hat sich selbst negirt, sofern sie sich in Skeptizismus verlor; im Pessimismus, dessen einzelne Ideen einer fruchtbringender« Entwicklung fähig gewesen wären, hat sie Folgerungen ge¬ zogen, die nicht notwendig waren, ja, selbst bei Schopenhauer, mitunter geradezu einander widersprechen- Doch das Hauptgebrechen unsrer Zeit auf philosophischem wie auf theologischen Gebiete können wir zusammenfassen in einen Ausdruck, den Lotze mehrfach anwendet: „die Verehrung der Formen statt des Inhalts." Inwiefern dieses Wort die Theologie unsrer Zeit trifft, inwiefern sie dadurch (wenn auch gewiß wider Wissen und Willen) selber mit Schuld trägt an der Glaubenslosigkeit, welche Wege sie einschlagen müßte, um ihren großen Aufgaben unsrer Zeit gegenüber zu genügen, welche Wege „Die zween Kardinalsätze unsrer reinen Vernunft: eS ist ein Gott, eS ist ein künf¬ tiges Leben," drückt es Kant mit seiner großartigen Einfachheit aus. Grenzboten III 189L 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/497>, abgerufen am 28.07.2024.