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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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kommt es auch im geistigen Leben nicht so sehr an; ihr Gebiet ist wohl das
der Verarbeitung und Ausgestaltung einmal lebendig gewordner Ideen, aber
nicht das der selbständigen, selbstthätigen Anregung, sei es in positivem oder
negativem Sinne. Um dieses Gebiet zu beurteilen, müssen wir auf den Durch¬
schnitt der männlichen Bevölkerung, vorzugsweise in den sogenannten "gebil¬
deten Kreisen," als solchen, von denen Anschauungen und Stimmungen in die
breitern Schichten des Volkes überzugehen pflegen, unser Augenmerk richten.
Und was finden wir da? Sicherlich keine aufsteigende Bewegung, keinen Zug
nach oben (vom religiösen Sinne ganz abgesehen), keine "Liebe der Wahrheit,
weil sie Wahrheit ist, sondern nur sofern sie Erfolg verspricht," Streben
nach geistigem Fortschritt mir zur Erreichung irdischer Ziele: Unabhängigkeit,
gesicherte Stellung, Karriere, materielle Güter. Was ist es denn, worüber
die Lehrer der Gymnasien und Universitäten hauptsächlich klagen bei der
jetzigen Jugend? Oberflächlichkeit und Genußsucht, Was stößt uns so zurück
an den meisten sogenannten "gebildeten" jungen Männern? Diese beiden
Grundzüge der Zeit. Wenn es so in den Kreisen steht, deren Berufsarbeit
die geistige Beschäftigung ist, was können wir dann von jenen verlangen, die
reale Ziele verfolgen, vom Kaufmnnnsstande. von Handwerkern und Arbeitern?
Was ist es denn, was den sozialdemokratischen Lehren Eingang verschafft im
Volke, und was ein Grundzug dieser Lehren selber ist? Oberflächlichkeit und
Genußsucht. Wer zu ungründlich ist, in den Sinn und Gehalt vvrgetragner
Phrasen einzudringen, sie auf ihre Folgerichtigkeit und Bedeutung zu prüfen,
wem die materiellen Güter den wahren Wert des Lebens ausmachen, wie
wollte der nicht eine leichte Beute sein für Lehren, deren Oberflächlichkeit sich
mit einem Scheine natürlichen Rechtes umgiebt, von denen der materielle
Genuß als höchstes Ziel und höchstes Motiv menschlichen Seins und Handelns
dargestellt wird! Aber wir können keinen Stein auf solche werfen, ohne uns,
die Vertreter der geistigen Interessen, selber zu treffen. Daß die Sache bei
jenen eine rohere Form annimmt, ist natürlich; das Wesentliche ist, trotz der
verschiednen Form bei Gebildeten und Ungebildeten, dasselbe. Übrigens, wenn
wir einen Blick thun in die neuesten litterarischen Erzeugnisse unsrer Zeit (die
doch der reinste Spiegel ihrer geistigen Richtung sein müßten), namentlich in
die sogenannte schöne Litteratur, die heute besser häßliche Litteratur heißen
könnte -- da findet sich neben einer mitunter geradezu verblüffenden Ober¬
flächlichkeit des Gedankens wie der Form eine ganz ausgebildete Theorie, ja
ein Dogma der Genußsucht, das an innerlicher Roheit, trotz des feinern Fir¬
nisses, dem der untersten Klassen ganz ebenbürtig ist.

Und nun, nach Betrachtung der Sache, wo liegt die Ursache? Wir ant¬
worten: in der Glaubenslosigkeit. Daß diese zum Teil wieder ihre Wurzeln
im Materialismus hat, oder vielmehr mit ihm in Wechselwirkung steht, thut
nichts zur Sache; wir sprechen überdies hier nicht vom Materialismus als


kommt es auch im geistigen Leben nicht so sehr an; ihr Gebiet ist wohl das
der Verarbeitung und Ausgestaltung einmal lebendig gewordner Ideen, aber
nicht das der selbständigen, selbstthätigen Anregung, sei es in positivem oder
negativem Sinne. Um dieses Gebiet zu beurteilen, müssen wir auf den Durch¬
schnitt der männlichen Bevölkerung, vorzugsweise in den sogenannten „gebil¬
deten Kreisen," als solchen, von denen Anschauungen und Stimmungen in die
breitern Schichten des Volkes überzugehen pflegen, unser Augenmerk richten.
Und was finden wir da? Sicherlich keine aufsteigende Bewegung, keinen Zug
nach oben (vom religiösen Sinne ganz abgesehen), keine „Liebe der Wahrheit,
weil sie Wahrheit ist, sondern nur sofern sie Erfolg verspricht," Streben
nach geistigem Fortschritt mir zur Erreichung irdischer Ziele: Unabhängigkeit,
gesicherte Stellung, Karriere, materielle Güter. Was ist es denn, worüber
die Lehrer der Gymnasien und Universitäten hauptsächlich klagen bei der
jetzigen Jugend? Oberflächlichkeit und Genußsucht, Was stößt uns so zurück
an den meisten sogenannten „gebildeten" jungen Männern? Diese beiden
Grundzüge der Zeit. Wenn es so in den Kreisen steht, deren Berufsarbeit
die geistige Beschäftigung ist, was können wir dann von jenen verlangen, die
reale Ziele verfolgen, vom Kaufmnnnsstande. von Handwerkern und Arbeitern?
Was ist es denn, was den sozialdemokratischen Lehren Eingang verschafft im
Volke, und was ein Grundzug dieser Lehren selber ist? Oberflächlichkeit und
Genußsucht. Wer zu ungründlich ist, in den Sinn und Gehalt vvrgetragner
Phrasen einzudringen, sie auf ihre Folgerichtigkeit und Bedeutung zu prüfen,
wem die materiellen Güter den wahren Wert des Lebens ausmachen, wie
wollte der nicht eine leichte Beute sein für Lehren, deren Oberflächlichkeit sich
mit einem Scheine natürlichen Rechtes umgiebt, von denen der materielle
Genuß als höchstes Ziel und höchstes Motiv menschlichen Seins und Handelns
dargestellt wird! Aber wir können keinen Stein auf solche werfen, ohne uns,
die Vertreter der geistigen Interessen, selber zu treffen. Daß die Sache bei
jenen eine rohere Form annimmt, ist natürlich; das Wesentliche ist, trotz der
verschiednen Form bei Gebildeten und Ungebildeten, dasselbe. Übrigens, wenn
wir einen Blick thun in die neuesten litterarischen Erzeugnisse unsrer Zeit (die
doch der reinste Spiegel ihrer geistigen Richtung sein müßten), namentlich in
die sogenannte schöne Litteratur, die heute besser häßliche Litteratur heißen
könnte — da findet sich neben einer mitunter geradezu verblüffenden Ober¬
flächlichkeit des Gedankens wie der Form eine ganz ausgebildete Theorie, ja
ein Dogma der Genußsucht, das an innerlicher Roheit, trotz des feinern Fir¬
nisses, dem der untersten Klassen ganz ebenbürtig ist.

Und nun, nach Betrachtung der Sache, wo liegt die Ursache? Wir ant¬
worten: in der Glaubenslosigkeit. Daß diese zum Teil wieder ihre Wurzeln
im Materialismus hat, oder vielmehr mit ihm in Wechselwirkung steht, thut
nichts zur Sache; wir sprechen überdies hier nicht vom Materialismus als


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/494>, abgerufen am 24.11.2024.