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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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d. h. den streng dogmatisch kirchlich Gläubigen, der Inhalt des Glaubens
verschieden darstellt, entsprechend den subjektiven Verschiedenheiten in der An¬
lage des Gemüts noch mehr als des Geistes. Dagegen muß das Wesen des
Glaubens, die Art und Weise, wie die Wahrheit -- das Ideale -- Gott --
kurz der Gegenstand der Ehrfurcht und Anbetung, ergriffen wird, wenn auch
dem Grade nach verschieden, doch wesentlich gleichartig sein, entsprechend den
allgemein giltigen psychologischen Gesetzen. Aber, wie gesagt, es ist hier nicht
der Ort und die Zeit für dogmatische Streitigkeiten, die überdies ein Wider¬
spruch in sich selbst sind, wie Kant in seiner "Kritik der reinen Vernunft" so
Prächtig ausgeführt hat. Möchten nur unsre Gegner auf der Rechten die
Ruhe und Geduld haben, nicht mit dem Schwerte dreinzuschlagen, sondern den
Glauben, der nicht eben so ist wie der ihrige, auch "an seinen Früchten zu
erkennen." Denn es ist traurig, die als unsre Gegner zu betrachten, die unsre
natürlichen Verbündeten sein sollten im Kampfe gegen den Unglauben oder,
was schlimmer ist, gegen die Gleichgiltigkeit. Und dies führt uns nach der
kurzen Abschweifung, zu der uns die erläuternden Bemerkungen über den Be¬
griff des Glaubens veranlaßten, wieder auf unser eigentliches Gebiet zurück.
Wir blieben bei der Frage stehen, was die Religion für die gesamte geistige
Ausbildung thun könne? Wir wollen diese positive Frage auch einmal in
negativer Fassung betrachten: Was wird aus dem geistigen Leben ohne Re¬
ligion? Wohlverstanden, wir reden hier ausdrücklich von geistigen Leben, nicht
vom sittlichen, das wir als etwas sekundäres nuseheu. Wenn wir die Frage so
stellen, so haben wir den Vorteil, das Feld der Doktrin zu verlassen und uns
ans den festen Boden der Erfahrung zu stellen. Wir wollen nicht näher eingehen
auf die allgemein menschlichen Erfahrungen, die uns die Geschichte im großen
liefert, daß jedes aufstrebende geistige Leben der Völker seine Wurzel hat in
dem tiefer empfundnen und deutlicher ausgeprägten Bewußtsein von etwas
Höherem, das unserm Sein und Denken erst Zusammenhang und Abschluß
giebt, zu dem wir uus in unmittelbarer Beziehung fühlen, in dein wir die
Verknüpfung und Erklärung aller Erscheinungen, ja auch aller Begriffe finden.
Wer von den Ergebnissen aller geistig und künstlerisch großen Perioden aus¬
geht, tiefer und tiefer hinabsteigt bis an ihre Wurzel, der wird sie hier finden,
so verschiedenartig auch die Formen sein mögen, die sich zu verschiednen Zeiten
und bei verschiednen Völkern daraus entwickelt haben. Dies nur nebenbei.
Wenn wir nun aber fortschreiten bis zu unserm Volke und zu unsrer Zeit,
was finden wir da? Mit tiefem Schmerze müssen wir uns gestehen, daß die
negative Fassung unsrer vorhin gestellten Frage hier am Platze ist: wir sehen,
was bei uns aus dem geistigen Leben wird ohne Religion. Daß es sich hier
nur um den Durchschnitt handelt, daß manche Kreise der Bevölkerung, na¬
mentlich der Landbevölkerung, ebenso wie auch die Mehrzahl der Frauen, nicht
mit unter dieses Urteil fallen, das versteht sich von selbst. Aber auf diese


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d. h. den streng dogmatisch kirchlich Gläubigen, der Inhalt des Glaubens
verschieden darstellt, entsprechend den subjektiven Verschiedenheiten in der An¬
lage des Gemüts noch mehr als des Geistes. Dagegen muß das Wesen des
Glaubens, die Art und Weise, wie die Wahrheit — das Ideale — Gott —
kurz der Gegenstand der Ehrfurcht und Anbetung, ergriffen wird, wenn auch
dem Grade nach verschieden, doch wesentlich gleichartig sein, entsprechend den
allgemein giltigen psychologischen Gesetzen. Aber, wie gesagt, es ist hier nicht
der Ort und die Zeit für dogmatische Streitigkeiten, die überdies ein Wider¬
spruch in sich selbst sind, wie Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft" so
Prächtig ausgeführt hat. Möchten nur unsre Gegner auf der Rechten die
Ruhe und Geduld haben, nicht mit dem Schwerte dreinzuschlagen, sondern den
Glauben, der nicht eben so ist wie der ihrige, auch „an seinen Früchten zu
erkennen." Denn es ist traurig, die als unsre Gegner zu betrachten, die unsre
natürlichen Verbündeten sein sollten im Kampfe gegen den Unglauben oder,
was schlimmer ist, gegen die Gleichgiltigkeit. Und dies führt uns nach der
kurzen Abschweifung, zu der uns die erläuternden Bemerkungen über den Be¬
griff des Glaubens veranlaßten, wieder auf unser eigentliches Gebiet zurück.
Wir blieben bei der Frage stehen, was die Religion für die gesamte geistige
Ausbildung thun könne? Wir wollen diese positive Frage auch einmal in
negativer Fassung betrachten: Was wird aus dem geistigen Leben ohne Re¬
ligion? Wohlverstanden, wir reden hier ausdrücklich von geistigen Leben, nicht
vom sittlichen, das wir als etwas sekundäres nuseheu. Wenn wir die Frage so
stellen, so haben wir den Vorteil, das Feld der Doktrin zu verlassen und uns
ans den festen Boden der Erfahrung zu stellen. Wir wollen nicht näher eingehen
auf die allgemein menschlichen Erfahrungen, die uns die Geschichte im großen
liefert, daß jedes aufstrebende geistige Leben der Völker seine Wurzel hat in
dem tiefer empfundnen und deutlicher ausgeprägten Bewußtsein von etwas
Höherem, das unserm Sein und Denken erst Zusammenhang und Abschluß
giebt, zu dem wir uus in unmittelbarer Beziehung fühlen, in dein wir die
Verknüpfung und Erklärung aller Erscheinungen, ja auch aller Begriffe finden.
Wer von den Ergebnissen aller geistig und künstlerisch großen Perioden aus¬
geht, tiefer und tiefer hinabsteigt bis an ihre Wurzel, der wird sie hier finden,
so verschiedenartig auch die Formen sein mögen, die sich zu verschiednen Zeiten
und bei verschiednen Völkern daraus entwickelt haben. Dies nur nebenbei.
Wenn wir nun aber fortschreiten bis zu unserm Volke und zu unsrer Zeit,
was finden wir da? Mit tiefem Schmerze müssen wir uns gestehen, daß die
negative Fassung unsrer vorhin gestellten Frage hier am Platze ist: wir sehen,
was bei uns aus dem geistigen Leben wird ohne Religion. Daß es sich hier
nur um den Durchschnitt handelt, daß manche Kreise der Bevölkerung, na¬
mentlich der Landbevölkerung, ebenso wie auch die Mehrzahl der Frauen, nicht
mit unter dieses Urteil fallen, das versteht sich von selbst. Aber auf diese


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/493>, abgerufen am 24.11.2024.