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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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zucken abfertigen werde, wenn wir ihm ein andres an die Seite stellen,
um zu erläutern, was wir meinen, ein Wort Goethes: "Die Natur hat jedem
alles gegeben, was er für Zeit und Dauer nötig hätte; dies zu entwickeln ist
unsre (der Erzieher) Pflicht. Aber eines bringt niemand mit ans die Welt,
und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen
Seiten zu ein Mensch sei: es ist die Ehrfurcht. Der Natur ist wohl Furcht
gemäß, Ehrfurcht aber nicht. Man fürchtet ein bekanntes oder unbekanntes
mächtiges Wesen; der Starke sucht es zu bekämpfen, der Schwache zu ver¬
meiden, beide wünschen, es los zu werden, und fühlen sich glücklich, wenn ihre
Natur zur Freiheit und Unabhängigkeit sich einigermaßen wieder herstellt. Der
natürliche Mensch wiederholt diese Operation millionenmal in seinem Leben:
von der Furcht strebt er zur Freiheit, aus der Freiheit wird er in die Furcht
getrieben und kommt um nichts weiter. Sich zu fürchten ist leicht, aber be¬
schwerlich; Ehrfurcht zu hegen ist schwer, aber bequemt) Ungern entschließt
sich der Mensch zur Ehrfurcht, oder vielmehr, er entschließt sich nie dazu; es
ist ein höherer Sinn, der seiner Natur gegeben werden muß. Hier liegt die
Würde, hier das Geschäft aller echten Religion."

Was Goethe hier als Ehrfurcht bezeichnet, das ist nichts andres, als das,
was den Kern und das Wesen des Glaubens ausmacht. Das unauslöschliche
Bewußtsein des Vergänglichen und Unzulänglichen in uns selbst und allen
unsern Leistungen gegenüber dem Ewigen, Unendlichen, die tiefe Sehnsucht des
Menschenherzens nach Erhebung und Veredelung, die nur in dem Höchsten
ihre Befriedigung finden kann, das Gefühl der seinsollenden Einheit mit ihm
und der thatsächlichen Entzweiung unsers Wesens mit ihm und dadurch mit
sich selbst, das Verlangen nach der vollkommnen Wiederherstellung dieser Ein¬
heit im Deuten und Handeln -- ist es nicht das, was in dem Begriff Glauben
enthalten ist, und was dem Goethischen Begriff Ehrfurcht entspricht?

Nach dieser Berufung anf Goethe und der Darlegung dessen, was wir
für das Wesentlichste im Glauben halten, werden wir freilich eben so viele
Gegner unter deu "Gläubigen" finden, wie vorher unter den Freidenkern. Es
würde zu weit führen, wollten wir hier eine gründliche Auseinandersetzung
versuchen über das Verhältnis zwischen dem Wesen des Glaubens und seinem
Inhalt, das ist für uns: den christlichen Religionswahrheiten. Auch wird eine
solche Auseinandersetzung mit Naturnotwendigkeit stets etwas Subjektives an
sich haben. Denn da es sich um Wahrheiten handelt, die nicht bewiesen werden
können und sollen, sondern geglaubt, mithin nicht um Objekte, die uns in der
Erfahrung gegeben werden können, so ergiebt sich daraus von selber, daß hier
keine objektive Bestimmung möglich ist. Ja wir möchten sogar so weit gehen,
anzunehmen, daß sich in jedem einzelnen Subjekt, auch unter den "Gläubigen,"



*) bequem hier im Sinne von befriedigend, wohlthätig.
Lüi'sum coixla!

zucken abfertigen werde, wenn wir ihm ein andres an die Seite stellen,
um zu erläutern, was wir meinen, ein Wort Goethes: „Die Natur hat jedem
alles gegeben, was er für Zeit und Dauer nötig hätte; dies zu entwickeln ist
unsre (der Erzieher) Pflicht. Aber eines bringt niemand mit ans die Welt,
und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen
Seiten zu ein Mensch sei: es ist die Ehrfurcht. Der Natur ist wohl Furcht
gemäß, Ehrfurcht aber nicht. Man fürchtet ein bekanntes oder unbekanntes
mächtiges Wesen; der Starke sucht es zu bekämpfen, der Schwache zu ver¬
meiden, beide wünschen, es los zu werden, und fühlen sich glücklich, wenn ihre
Natur zur Freiheit und Unabhängigkeit sich einigermaßen wieder herstellt. Der
natürliche Mensch wiederholt diese Operation millionenmal in seinem Leben:
von der Furcht strebt er zur Freiheit, aus der Freiheit wird er in die Furcht
getrieben und kommt um nichts weiter. Sich zu fürchten ist leicht, aber be¬
schwerlich; Ehrfurcht zu hegen ist schwer, aber bequemt) Ungern entschließt
sich der Mensch zur Ehrfurcht, oder vielmehr, er entschließt sich nie dazu; es
ist ein höherer Sinn, der seiner Natur gegeben werden muß. Hier liegt die
Würde, hier das Geschäft aller echten Religion."

Was Goethe hier als Ehrfurcht bezeichnet, das ist nichts andres, als das,
was den Kern und das Wesen des Glaubens ausmacht. Das unauslöschliche
Bewußtsein des Vergänglichen und Unzulänglichen in uns selbst und allen
unsern Leistungen gegenüber dem Ewigen, Unendlichen, die tiefe Sehnsucht des
Menschenherzens nach Erhebung und Veredelung, die nur in dem Höchsten
ihre Befriedigung finden kann, das Gefühl der seinsollenden Einheit mit ihm
und der thatsächlichen Entzweiung unsers Wesens mit ihm und dadurch mit
sich selbst, das Verlangen nach der vollkommnen Wiederherstellung dieser Ein¬
heit im Deuten und Handeln — ist es nicht das, was in dem Begriff Glauben
enthalten ist, und was dem Goethischen Begriff Ehrfurcht entspricht?

Nach dieser Berufung anf Goethe und der Darlegung dessen, was wir
für das Wesentlichste im Glauben halten, werden wir freilich eben so viele
Gegner unter deu „Gläubigen" finden, wie vorher unter den Freidenkern. Es
würde zu weit führen, wollten wir hier eine gründliche Auseinandersetzung
versuchen über das Verhältnis zwischen dem Wesen des Glaubens und seinem
Inhalt, das ist für uns: den christlichen Religionswahrheiten. Auch wird eine
solche Auseinandersetzung mit Naturnotwendigkeit stets etwas Subjektives an
sich haben. Denn da es sich um Wahrheiten handelt, die nicht bewiesen werden
können und sollen, sondern geglaubt, mithin nicht um Objekte, die uns in der
Erfahrung gegeben werden können, so ergiebt sich daraus von selber, daß hier
keine objektive Bestimmung möglich ist. Ja wir möchten sogar so weit gehen,
anzunehmen, daß sich in jedem einzelnen Subjekt, auch unter den „Gläubigen,"



*) bequem hier im Sinne von befriedigend, wohlthätig.
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[0492] Lüi'sum coixla! zucken abfertigen werde, wenn wir ihm ein andres an die Seite stellen, um zu erläutern, was wir meinen, ein Wort Goethes: „Die Natur hat jedem alles gegeben, was er für Zeit und Dauer nötig hätte; dies zu entwickeln ist unsre (der Erzieher) Pflicht. Aber eines bringt niemand mit ans die Welt, und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei: es ist die Ehrfurcht. Der Natur ist wohl Furcht gemäß, Ehrfurcht aber nicht. Man fürchtet ein bekanntes oder unbekanntes mächtiges Wesen; der Starke sucht es zu bekämpfen, der Schwache zu ver¬ meiden, beide wünschen, es los zu werden, und fühlen sich glücklich, wenn ihre Natur zur Freiheit und Unabhängigkeit sich einigermaßen wieder herstellt. Der natürliche Mensch wiederholt diese Operation millionenmal in seinem Leben: von der Furcht strebt er zur Freiheit, aus der Freiheit wird er in die Furcht getrieben und kommt um nichts weiter. Sich zu fürchten ist leicht, aber be¬ schwerlich; Ehrfurcht zu hegen ist schwer, aber bequemt) Ungern entschließt sich der Mensch zur Ehrfurcht, oder vielmehr, er entschließt sich nie dazu; es ist ein höherer Sinn, der seiner Natur gegeben werden muß. Hier liegt die Würde, hier das Geschäft aller echten Religion." Was Goethe hier als Ehrfurcht bezeichnet, das ist nichts andres, als das, was den Kern und das Wesen des Glaubens ausmacht. Das unauslöschliche Bewußtsein des Vergänglichen und Unzulänglichen in uns selbst und allen unsern Leistungen gegenüber dem Ewigen, Unendlichen, die tiefe Sehnsucht des Menschenherzens nach Erhebung und Veredelung, die nur in dem Höchsten ihre Befriedigung finden kann, das Gefühl der seinsollenden Einheit mit ihm und der thatsächlichen Entzweiung unsers Wesens mit ihm und dadurch mit sich selbst, das Verlangen nach der vollkommnen Wiederherstellung dieser Ein¬ heit im Deuten und Handeln — ist es nicht das, was in dem Begriff Glauben enthalten ist, und was dem Goethischen Begriff Ehrfurcht entspricht? Nach dieser Berufung anf Goethe und der Darlegung dessen, was wir für das Wesentlichste im Glauben halten, werden wir freilich eben so viele Gegner unter deu „Gläubigen" finden, wie vorher unter den Freidenkern. Es würde zu weit führen, wollten wir hier eine gründliche Auseinandersetzung versuchen über das Verhältnis zwischen dem Wesen des Glaubens und seinem Inhalt, das ist für uns: den christlichen Religionswahrheiten. Auch wird eine solche Auseinandersetzung mit Naturnotwendigkeit stets etwas Subjektives an sich haben. Denn da es sich um Wahrheiten handelt, die nicht bewiesen werden können und sollen, sondern geglaubt, mithin nicht um Objekte, die uns in der Erfahrung gegeben werden können, so ergiebt sich daraus von selber, daß hier keine objektive Bestimmung möglich ist. Ja wir möchten sogar so weit gehen, anzunehmen, daß sich in jedem einzelnen Subjekt, auch unter den „Gläubigen," *) bequem hier im Sinne von befriedigend, wohlthätig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/492>, abgerufen am 24.11.2024.