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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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ihn selbst hat, kann im ganzen helfen. Diese Auffassung bringt uns dazu,
die andern Fragen zu beantworten. Wenn jeder einzelne für sich selbst thätig
sein soll und wird, so brauchen wir nicht eine geräuschvolle Wirksamkeit äußerer
Reformen, sondern in dem innern Leben des einzelnen, aber auch in seinem
ganzen Innern, muß diese Reform vor sich gehen. Und in welcher Weise?
Wir denken dabei nicht an Zeiten der "Bekehrung" und "Erweckung," wie bei
Savonarolas Predigten, wie bei Cromwells düster glühenden Reden, nicht an
Kreuzfahrer- und Flagellanteneifcr. Nein, die Erkenntnis der einzelnen Seele,
daß nicht nur uns (dazu versteht man sich schon, um dann heimlich sich selbst
aufzunehmen, gleichsam durch die Hinterthür zu entschlüpfen), daß mir etwas
fehlt, die muß zur stillen Einkehr bei sich selbst treiben, zur Selbstprüfung,
zum Suchen nach Erkenntnis, zum Streben nach Forderung. Wie und worin
diese zu finden sind, das führt uns auf unsre eigentliche, große Frage.

Zunächst müssen wir noch einen Umstand ins Auge fassen. Carlhle sagt
einmal (in seiner Olmi-g-ctgri-zrio, jener ernsten, düstern Weissagung für unser
Jahrhundert): "Die Wahrheit wird nicht mehr geliebt, weil sie Wahrheit ist,
sondern sofern sie Erfolg verspricht." In diesem Sinne haben die meisten, bei
weitem die meisten, jenes Wort, jene Forderung der Religion für unser Land
angerufen und angeschrien: nur insofern die Religion Erfolg versprach für
die Zügelung und Bändigung der Massen, uur insofern hatte sie Wert. Daß
der Inhalt und das Wesen der Religion Wahrheit ist -- sein soll, wollen
wir wenigstens sagen --, daß, wie Schopenhauer es schön ausdrückt,") jede
Religionsform das Gefäß ist, worin der kostbare Inhalt der Wahrheit von
Jahrhundert zu Jahrhundert, von Volk zu Volk weiter überliefert wird, und
daß man die Wahrheit um ihrer selbst willen liebt und sucht, das scheint bei
uns sehr vergessen zu sein. Nein, darum "muß Religion ins Land," weil
allerdings keine sittliche Erneuerung möglich ist ohne die geistige (die Meta-
phhsik geht der Ethik voran), weil aber auch die sittliche Erneuerung nicht der
einzige Zweck ist, dem die geistige Erneuerung nur als Mittel dienen müßte,
sondern weil der erste, höchste Zweck jedes Menschenlebens das Streben nach
Wahrheit ist. Jeden Versuch, den Wert einer Wahrheit nach ihren praktischen
Erfolgen abzumessen, müssen wir mit dem Schillerschen Worte zurückweisen:
"Wer um die Göttin freit, suche in ihr nicht das Weib."

Nun wird man uus vielleicht zugeben, das sei ja alles gut und schön,
der unbedingte Wert des Strebens nach Wahrheit, die Bedeutung der geistigen
Entwicklung für das sittliche und materielle Leben eines Volkes solle nicht
unterschätzt werden; aber ob es denn gerade die Religion sei, die solche geistige
Entwicklung am wirksamsten unterstütze, das sei doch sehr zweifelhaft. Man



"Die Welt als Wille und Vorstellung." 2. Bd. "Über das metaphysische Bedürfnis
des Menschen."
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ihn selbst hat, kann im ganzen helfen. Diese Auffassung bringt uns dazu,
die andern Fragen zu beantworten. Wenn jeder einzelne für sich selbst thätig
sein soll und wird, so brauchen wir nicht eine geräuschvolle Wirksamkeit äußerer
Reformen, sondern in dem innern Leben des einzelnen, aber auch in seinem
ganzen Innern, muß diese Reform vor sich gehen. Und in welcher Weise?
Wir denken dabei nicht an Zeiten der „Bekehrung" und „Erweckung," wie bei
Savonarolas Predigten, wie bei Cromwells düster glühenden Reden, nicht an
Kreuzfahrer- und Flagellanteneifcr. Nein, die Erkenntnis der einzelnen Seele,
daß nicht nur uns (dazu versteht man sich schon, um dann heimlich sich selbst
aufzunehmen, gleichsam durch die Hinterthür zu entschlüpfen), daß mir etwas
fehlt, die muß zur stillen Einkehr bei sich selbst treiben, zur Selbstprüfung,
zum Suchen nach Erkenntnis, zum Streben nach Forderung. Wie und worin
diese zu finden sind, das führt uns auf unsre eigentliche, große Frage.

Zunächst müssen wir noch einen Umstand ins Auge fassen. Carlhle sagt
einmal (in seiner Olmi-g-ctgri-zrio, jener ernsten, düstern Weissagung für unser
Jahrhundert): „Die Wahrheit wird nicht mehr geliebt, weil sie Wahrheit ist,
sondern sofern sie Erfolg verspricht." In diesem Sinne haben die meisten, bei
weitem die meisten, jenes Wort, jene Forderung der Religion für unser Land
angerufen und angeschrien: nur insofern die Religion Erfolg versprach für
die Zügelung und Bändigung der Massen, uur insofern hatte sie Wert. Daß
der Inhalt und das Wesen der Religion Wahrheit ist — sein soll, wollen
wir wenigstens sagen —, daß, wie Schopenhauer es schön ausdrückt,") jede
Religionsform das Gefäß ist, worin der kostbare Inhalt der Wahrheit von
Jahrhundert zu Jahrhundert, von Volk zu Volk weiter überliefert wird, und
daß man die Wahrheit um ihrer selbst willen liebt und sucht, das scheint bei
uns sehr vergessen zu sein. Nein, darum „muß Religion ins Land," weil
allerdings keine sittliche Erneuerung möglich ist ohne die geistige (die Meta-
phhsik geht der Ethik voran), weil aber auch die sittliche Erneuerung nicht der
einzige Zweck ist, dem die geistige Erneuerung nur als Mittel dienen müßte,
sondern weil der erste, höchste Zweck jedes Menschenlebens das Streben nach
Wahrheit ist. Jeden Versuch, den Wert einer Wahrheit nach ihren praktischen
Erfolgen abzumessen, müssen wir mit dem Schillerschen Worte zurückweisen:
„Wer um die Göttin freit, suche in ihr nicht das Weib."

Nun wird man uus vielleicht zugeben, das sei ja alles gut und schön,
der unbedingte Wert des Strebens nach Wahrheit, die Bedeutung der geistigen
Entwicklung für das sittliche und materielle Leben eines Volkes solle nicht
unterschätzt werden; aber ob es denn gerade die Religion sei, die solche geistige
Entwicklung am wirksamsten unterstütze, das sei doch sehr zweifelhaft. Man



„Die Welt als Wille und Vorstellung." 2. Bd. „Über das metaphysische Bedürfnis
des Menschen."
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/490>, abgerufen am 23.11.2024.