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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Das frühere Kurhessen
von V, Bahr

eher manche geschichtlichen Ereignisse oder Zustände bilden sich
Legenden, die überall wiederkehren. Wenn solche Legenden die
große Menge beherrschen, so muß man sich damit trösten, daß
die Menge eben unzurechnungsfähig ist. Auffälliger und schmerz¬
licher ist es, wenn man auch bei Geschichtsforschern Äußerungen
begegnet, die bezeugen, daß auch sie nnter der Herrschaft solcher Anschauungen
stehen.^H?/".
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Gegenstand einer solchen Legendenbildnng sind namentlich die Zustände
des frühern Kurhesseus. Vor kurzem hat unser allverehrter Geschichtsmeister
Heinrich von Shbel in der von ihm herausgegebnen historische" Zeitschrift
einen Aussatz unter dein Titel "Hans Daniel Hassenpflng" veröffentlicht. In
der Lebensbeschreibung dieses Mannes (er hieß "Hans Daniel Ludwig Fried¬
rich," und "Ludwig" war sein Nnfname) ist zugleich ein Stück kurhessischer Ge¬
schichte enthalten. Sybel war in den Jahren 1845 bis 185V Professor in
Marburg, hat damals auch zeitweise dem hessischen Landtage angehört. Er
hat also während dieser Zeit den hessischen Verhältnissen nahe gestanden. Seine
Schilderung bezieht sich nun auch vorzugsweise auf diese Zeit, in der ja Hassen-
pflug, der damals (1850 bis 1855) zum zweitenmale hessischer Minister war,
eine für ganz Deutschland verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Gegen die
Schilderung dieser Zeit, für die ihm noch weitere bis dahin unbekannte Quellen
zu Gebote gestanden haben mögen, läßt sich auch kein Einwand erheben. Nun
ist aber Hassenpflug auch schou früher einmal, während der Jahre 1832 bis
1837, hessischer Minister gewesen. Um also seinen Helden in das richtige
Licht zu setzen, glaubt Shbel auch auf diese erste Ministcrzeit Hassenpflugs
einen Blick werfen zu müssen. Er schildert sie mit folgenden Worten: "So
begann Hassenpflugs fünfjährige erste Verwaltung, die man als ein unaus¬
gesetztes und allseitiges Streben bezeichne" muß, jede Selbständigkeit des Land¬
tags und der Gemeinden, der Beamten und der Bürger mit allen Mitteln
des Rechts und der Nechtsverdrehung, der Korruption und der brutalen Ge¬
walt zu biegen oder zu brechen." Diese Darstellung giebt kein richtiges Bild
von der damaligen Wirksamkeit Hassenpflugs. Wie schwer man auch die




Das frühere Kurhessen
von V, Bahr

eher manche geschichtlichen Ereignisse oder Zustände bilden sich
Legenden, die überall wiederkehren. Wenn solche Legenden die
große Menge beherrschen, so muß man sich damit trösten, daß
die Menge eben unzurechnungsfähig ist. Auffälliger und schmerz¬
licher ist es, wenn man auch bei Geschichtsforschern Äußerungen
begegnet, die bezeugen, daß auch sie nnter der Herrschaft solcher Anschauungen
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Gegenstand einer solchen Legendenbildnng sind namentlich die Zustände
des frühern Kurhesseus. Vor kurzem hat unser allverehrter Geschichtsmeister
Heinrich von Shbel in der von ihm herausgegebnen historische» Zeitschrift
einen Aussatz unter dein Titel „Hans Daniel Hassenpflng" veröffentlicht. In
der Lebensbeschreibung dieses Mannes (er hieß „Hans Daniel Ludwig Fried¬
rich," und „Ludwig" war sein Nnfname) ist zugleich ein Stück kurhessischer Ge¬
schichte enthalten. Sybel war in den Jahren 1845 bis 185V Professor in
Marburg, hat damals auch zeitweise dem hessischen Landtage angehört. Er
hat also während dieser Zeit den hessischen Verhältnissen nahe gestanden. Seine
Schilderung bezieht sich nun auch vorzugsweise auf diese Zeit, in der ja Hassen-
pflug, der damals (1850 bis 1855) zum zweitenmale hessischer Minister war,
eine für ganz Deutschland verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Gegen die
Schilderung dieser Zeit, für die ihm noch weitere bis dahin unbekannte Quellen
zu Gebote gestanden haben mögen, läßt sich auch kein Einwand erheben. Nun
ist aber Hassenpflug auch schou früher einmal, während der Jahre 1832 bis
1837, hessischer Minister gewesen. Um also seinen Helden in das richtige
Licht zu setzen, glaubt Shbel auch auf diese erste Ministcrzeit Hassenpflugs
einen Blick werfen zu müssen. Er schildert sie mit folgenden Worten: „So
begann Hassenpflugs fünfjährige erste Verwaltung, die man als ein unaus¬
gesetztes und allseitiges Streben bezeichne» muß, jede Selbständigkeit des Land¬
tags und der Gemeinden, der Beamten und der Bürger mit allen Mitteln
des Rechts und der Nechtsverdrehung, der Korruption und der brutalen Ge¬
walt zu biegen oder zu brechen." Diese Darstellung giebt kein richtiges Bild
von der damaligen Wirksamkeit Hassenpflugs. Wie schwer man auch die


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[0474] [Abbildung] Das frühere Kurhessen von V, Bahr eher manche geschichtlichen Ereignisse oder Zustände bilden sich Legenden, die überall wiederkehren. Wenn solche Legenden die große Menge beherrschen, so muß man sich damit trösten, daß die Menge eben unzurechnungsfähig ist. Auffälliger und schmerz¬ licher ist es, wenn man auch bei Geschichtsforschern Äußerungen begegnet, die bezeugen, daß auch sie nnter der Herrschaft solcher Anschauungen stehen.^H?/«. W- iMS W- / T^N « WM! Gegenstand einer solchen Legendenbildnng sind namentlich die Zustände des frühern Kurhesseus. Vor kurzem hat unser allverehrter Geschichtsmeister Heinrich von Shbel in der von ihm herausgegebnen historische» Zeitschrift einen Aussatz unter dein Titel „Hans Daniel Hassenpflng" veröffentlicht. In der Lebensbeschreibung dieses Mannes (er hieß „Hans Daniel Ludwig Fried¬ rich," und „Ludwig" war sein Nnfname) ist zugleich ein Stück kurhessischer Ge¬ schichte enthalten. Sybel war in den Jahren 1845 bis 185V Professor in Marburg, hat damals auch zeitweise dem hessischen Landtage angehört. Er hat also während dieser Zeit den hessischen Verhältnissen nahe gestanden. Seine Schilderung bezieht sich nun auch vorzugsweise auf diese Zeit, in der ja Hassen- pflug, der damals (1850 bis 1855) zum zweitenmale hessischer Minister war, eine für ganz Deutschland verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Gegen die Schilderung dieser Zeit, für die ihm noch weitere bis dahin unbekannte Quellen zu Gebote gestanden haben mögen, läßt sich auch kein Einwand erheben. Nun ist aber Hassenpflug auch schou früher einmal, während der Jahre 1832 bis 1837, hessischer Minister gewesen. Um also seinen Helden in das richtige Licht zu setzen, glaubt Shbel auch auf diese erste Ministcrzeit Hassenpflugs einen Blick werfen zu müssen. Er schildert sie mit folgenden Worten: „So begann Hassenpflugs fünfjährige erste Verwaltung, die man als ein unaus¬ gesetztes und allseitiges Streben bezeichne» muß, jede Selbständigkeit des Land¬ tags und der Gemeinden, der Beamten und der Bürger mit allen Mitteln des Rechts und der Nechtsverdrehung, der Korruption und der brutalen Ge¬ walt zu biegen oder zu brechen." Diese Darstellung giebt kein richtiges Bild von der damaligen Wirksamkeit Hassenpflugs. Wie schwer man auch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/474>, abgerufen am 27.11.2024.