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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die Münchner Ausstellungen

haben Dresden oder Berlin als Ausstellungsort ins Auge gefaßt. Schließlich
haben sie sich doch entschlossen, die Berliner Ausstellung mit den Bildern vom
vorigen Jahr abzufinden, und haben ihre Hauptausstellung in München ver¬
anstaltet. Hier allein ist durch jahrelange Übung das Publikum weit genug,
ihnen wenigstens einigermaßen folgen zu können. Nach München geht jedes
Jahr jeder, der sich über den augenblicklichem Stand der Kunst unterrichten
will. In vierunddreißig Tagen ist das Ausstellungsgebände errichtet worden,
und wohl noch nie hat es eine für solchen Zweck vorteilhafter angelegte Baulich¬
keit gegeben. In allen Räumen ist Licht, die Farbengebung der Wände ist aufs
beste berechnet, jedes Bild, wenigstens in den Hauptsälen, hat seinen genügenden
Raum und wird nicht durch die Nachbarschaft andrer erdrückt, nur wenige
haben zu hoch oder zu tief gehängt werden müssen.

Die Ausstellung verfolgt einen ganz bestimmten künstlerischen Zweck, die
Künstler wollen gewisse Grundsätze aussprechen, ohne sich zunächst um die
Verkäuflichkeit ihrer Bilder zu kümmern. Jeder hat seine höchste Kraft ange¬
spannt und seine Absichten mit einer Klarheit ausgesprochen, die er sonst mit
Rücksicht auf die Verkäuflichkeit nicht gewagt hätte. So gewährt diese Aus¬
stellung ein Urteil über die Ziele der Sezessionisten, wie noch keine zuvor.

Der Rückgriff zum Primitiven ist entstanden aus Überdruß an der Fülle
der überkommueu Formen, der Überbilduug, Deutschland ist am Ende des
neunzehnten Jahrhunderts in einer sonderbaren Lage. Durch eine gewaltige
Kraftleistung, die an "Monumentalität" an die größten Zeiten der Vergangen¬
heit erinnert, ist ein neues Reich geschaffen worden. Seit dem großen Kriege
ist ein Wandel eingetreten in allem und jedem. Das Reich und alle Kultur¬
formen haben nen ausgebaut werden müssen. So sind die Deutschen in
der Lage eines jungen Volks. Besonders im Norden hat die praktische Arbeit
der letzten Jahrzehnte so gewaltig sein müssen, daß für die Pflege der Kunst
keine Zeit übrig blieb, und so hat das Publikum als Ganzes kein Verhältnis
zur Kunst. Andrerseits kennen wir die Kultur vergangner Jahrhunderte bis
zu einem Grade, wie es bisher noch niemals der Fall gewesen ist. Die Fülle
der Kenntnis ist so groß, daß sie von der größern Menge der sogenannten
Gebildeten gar nicht verdaut werden kann. Zudem dringt täglich von Frank¬
reich eine bis zum Raffinirten ausgebildete Überkultur zu uns herüber. So
herrscht in Deutschland ein seltsames Gemisch von Unkultur und Überkultur,
das jede Sicherheit des Geschmacks unmöglich macht. In diesem unklaren und
ungegohrncn Zustande tritt nun eine junge Künstlerschar auf, die das ener¬
gische Streben hat, etwas neues, großes zu erreichen. Ist es da nicht natür¬
lich, daß wir in ihrem Schaffen vielem begegnen, was ebenso unklar und un-
gegvhren ist, wie der allgemeine Zustand?

Der Einfluß der Überbildnng macht sich bei Franz Stuck geltend und
spiegelt sich in seinem starken Talent besonders scharf. Alle seine Bilder zeigen


Die Münchner Ausstellungen

haben Dresden oder Berlin als Ausstellungsort ins Auge gefaßt. Schließlich
haben sie sich doch entschlossen, die Berliner Ausstellung mit den Bildern vom
vorigen Jahr abzufinden, und haben ihre Hauptausstellung in München ver¬
anstaltet. Hier allein ist durch jahrelange Übung das Publikum weit genug,
ihnen wenigstens einigermaßen folgen zu können. Nach München geht jedes
Jahr jeder, der sich über den augenblicklichem Stand der Kunst unterrichten
will. In vierunddreißig Tagen ist das Ausstellungsgebände errichtet worden,
und wohl noch nie hat es eine für solchen Zweck vorteilhafter angelegte Baulich¬
keit gegeben. In allen Räumen ist Licht, die Farbengebung der Wände ist aufs
beste berechnet, jedes Bild, wenigstens in den Hauptsälen, hat seinen genügenden
Raum und wird nicht durch die Nachbarschaft andrer erdrückt, nur wenige
haben zu hoch oder zu tief gehängt werden müssen.

Die Ausstellung verfolgt einen ganz bestimmten künstlerischen Zweck, die
Künstler wollen gewisse Grundsätze aussprechen, ohne sich zunächst um die
Verkäuflichkeit ihrer Bilder zu kümmern. Jeder hat seine höchste Kraft ange¬
spannt und seine Absichten mit einer Klarheit ausgesprochen, die er sonst mit
Rücksicht auf die Verkäuflichkeit nicht gewagt hätte. So gewährt diese Aus¬
stellung ein Urteil über die Ziele der Sezessionisten, wie noch keine zuvor.

Der Rückgriff zum Primitiven ist entstanden aus Überdruß an der Fülle
der überkommueu Formen, der Überbilduug, Deutschland ist am Ende des
neunzehnten Jahrhunderts in einer sonderbaren Lage. Durch eine gewaltige
Kraftleistung, die an „Monumentalität" an die größten Zeiten der Vergangen¬
heit erinnert, ist ein neues Reich geschaffen worden. Seit dem großen Kriege
ist ein Wandel eingetreten in allem und jedem. Das Reich und alle Kultur¬
formen haben nen ausgebaut werden müssen. So sind die Deutschen in
der Lage eines jungen Volks. Besonders im Norden hat die praktische Arbeit
der letzten Jahrzehnte so gewaltig sein müssen, daß für die Pflege der Kunst
keine Zeit übrig blieb, und so hat das Publikum als Ganzes kein Verhältnis
zur Kunst. Andrerseits kennen wir die Kultur vergangner Jahrhunderte bis
zu einem Grade, wie es bisher noch niemals der Fall gewesen ist. Die Fülle
der Kenntnis ist so groß, daß sie von der größern Menge der sogenannten
Gebildeten gar nicht verdaut werden kann. Zudem dringt täglich von Frank¬
reich eine bis zum Raffinirten ausgebildete Überkultur zu uns herüber. So
herrscht in Deutschland ein seltsames Gemisch von Unkultur und Überkultur,
das jede Sicherheit des Geschmacks unmöglich macht. In diesem unklaren und
ungegohrncn Zustande tritt nun eine junge Künstlerschar auf, die das ener¬
gische Streben hat, etwas neues, großes zu erreichen. Ist es da nicht natür¬
lich, daß wir in ihrem Schaffen vielem begegnen, was ebenso unklar und un-
gegvhren ist, wie der allgemeine Zustand?

Der Einfluß der Überbildnng macht sich bei Franz Stuck geltend und
spiegelt sich in seinem starken Talent besonders scharf. Alle seine Bilder zeigen


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[0470] Die Münchner Ausstellungen haben Dresden oder Berlin als Ausstellungsort ins Auge gefaßt. Schließlich haben sie sich doch entschlossen, die Berliner Ausstellung mit den Bildern vom vorigen Jahr abzufinden, und haben ihre Hauptausstellung in München ver¬ anstaltet. Hier allein ist durch jahrelange Übung das Publikum weit genug, ihnen wenigstens einigermaßen folgen zu können. Nach München geht jedes Jahr jeder, der sich über den augenblicklichem Stand der Kunst unterrichten will. In vierunddreißig Tagen ist das Ausstellungsgebände errichtet worden, und wohl noch nie hat es eine für solchen Zweck vorteilhafter angelegte Baulich¬ keit gegeben. In allen Räumen ist Licht, die Farbengebung der Wände ist aufs beste berechnet, jedes Bild, wenigstens in den Hauptsälen, hat seinen genügenden Raum und wird nicht durch die Nachbarschaft andrer erdrückt, nur wenige haben zu hoch oder zu tief gehängt werden müssen. Die Ausstellung verfolgt einen ganz bestimmten künstlerischen Zweck, die Künstler wollen gewisse Grundsätze aussprechen, ohne sich zunächst um die Verkäuflichkeit ihrer Bilder zu kümmern. Jeder hat seine höchste Kraft ange¬ spannt und seine Absichten mit einer Klarheit ausgesprochen, die er sonst mit Rücksicht auf die Verkäuflichkeit nicht gewagt hätte. So gewährt diese Aus¬ stellung ein Urteil über die Ziele der Sezessionisten, wie noch keine zuvor. Der Rückgriff zum Primitiven ist entstanden aus Überdruß an der Fülle der überkommueu Formen, der Überbilduug, Deutschland ist am Ende des neunzehnten Jahrhunderts in einer sonderbaren Lage. Durch eine gewaltige Kraftleistung, die an „Monumentalität" an die größten Zeiten der Vergangen¬ heit erinnert, ist ein neues Reich geschaffen worden. Seit dem großen Kriege ist ein Wandel eingetreten in allem und jedem. Das Reich und alle Kultur¬ formen haben nen ausgebaut werden müssen. So sind die Deutschen in der Lage eines jungen Volks. Besonders im Norden hat die praktische Arbeit der letzten Jahrzehnte so gewaltig sein müssen, daß für die Pflege der Kunst keine Zeit übrig blieb, und so hat das Publikum als Ganzes kein Verhältnis zur Kunst. Andrerseits kennen wir die Kultur vergangner Jahrhunderte bis zu einem Grade, wie es bisher noch niemals der Fall gewesen ist. Die Fülle der Kenntnis ist so groß, daß sie von der größern Menge der sogenannten Gebildeten gar nicht verdaut werden kann. Zudem dringt täglich von Frank¬ reich eine bis zum Raffinirten ausgebildete Überkultur zu uns herüber. So herrscht in Deutschland ein seltsames Gemisch von Unkultur und Überkultur, das jede Sicherheit des Geschmacks unmöglich macht. In diesem unklaren und ungegohrncn Zustande tritt nun eine junge Künstlerschar auf, die das ener¬ gische Streben hat, etwas neues, großes zu erreichen. Ist es da nicht natür¬ lich, daß wir in ihrem Schaffen vielem begegnen, was ebenso unklar und un- gegvhren ist, wie der allgemeine Zustand? Der Einfluß der Überbildnng macht sich bei Franz Stuck geltend und spiegelt sich in seinem starken Talent besonders scharf. Alle seine Bilder zeigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/470>, abgerufen am 24.11.2024.