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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die Münchner Ausstellungen

stattgefunden. Die Realkunst der Renaissance stellte sich den ausgeschriebnen
Formen der gotischen Jdecilkuust gegenüber. Fast in wissenschaftlicher Weise gingen
die Künstler vor, jeder in seiner Art an der Erneuerung der Kunst arbeitend. Bei
allen zeigt sich ein Zwiespalt zwischen Inhalt und Form. Die heiligen Gegen¬
stände -- andre kannte die Kunst damals noch sast gar nicht -- bildeten nur
den Vorwand. Fra Filippo z. B. malte seine Engel als Mädchengestalten mit
sinnlichen Gesichtern. Erst Rciphael vermochte das Sinnliche mit dem Über¬
sinnlichen wieder in Einklang zu setzen.

Natürlich wiederholt sich in der Geschichte nichts ganz gleichmäßig, und
deshalb kann der Vergleich zwischen der archaischen Florentiner Kunst und der
archaisch-modernen auch nur bedingungsweise gezogen werden. Es treten eben
jetzt ganz besondre Verhältnisse hinzu.

Betrachten wir einige der Sczessionistenbilder. Als besonders interessant
fällt das Gemälde von Albert Keller auf. Nonnen knieen betend um das Lager
einer toten Schwester. Keller gehört nicht zu den Jüngsten, er ist von früher
bekannt durch seinen reichen Farbensinn. Er hat sich aber den Sezessionisten
angeschlossen und, ihrem Prinzip folgend, sein Gemälde ganz unter die Herr¬
schaft des Lichts gestellt. In einem Raum, der ganz von Kerzendunst erfüllt
ist, fällt von außen spärliches Licht, und die gelben Flammen der Kerzen werfen
ihre gelben Reflexe in die blaugrauen Dunstmassen; die Gesichter der Nonnen
blicken daraus nur undeutlich hervor. Aber wie bei den sinnlichen Engeln des
Fra Filippo ist auch hier die Aufgabe nicht streng erfaßt; das sind gar nicht
die harten und kalten Gesichter von Nonnen, es sind als Nonnen verkleidete
Weiber in der vollen Entwicklung ihrer Sinnlichkeit.

Die Sezessionisten verzichten darauf, organisch reife Kunstwerke zu schaffen.
Mit derselben Wissenschaftlichkeit wie im Quattrocento wird von jedem Künstler
nur eine Seite der Aufgabe erfaßt. Hugo König giebt in seiner Winterland¬
schaft vor allem das Lockere des Schnees und die eigentümlichen Dunsterschei-
uungen, die die feuchte, zum Tau neigende Winterluft erzeugt, Zügel das Dick¬
wollige der Schafe und die grüne Wildnis des Grases mit einer Gegen¬
ständlichkeit, daß man glaubt, das Fett zu fühlen und sich in dem dichten
Grase verstricken zu können. Die Künstler haben sich auf den Standpunkt
des reinen Sehens gestellt, sie wollen gar nicht mehr geben, als was das
Auge erfaßt. Ganz deutlich aber sieht das Auge, wie der photographische
Apparat, immer nur einen Plau, aber nicht neben dem Vordergründe
gleichzeitig den weit entfernten Hintergrund; darum ist der Hintergrund der
meisten modernen Bilder verschwommen und nur in großen Zügen ange¬
geben. Früher waren Gemälde die dnrch Reflexion umgestaltete Wirklichkeit,
jetzt sind sie nur durch das Auge ohne idealisirende Gehirnarbeit gesehne Wirk¬
lichkeit. Es ist das ein künstliches Zurückschrauben ins Primitive. Darum
lieben auch die Künstler das Bäurische darzustellen. Das buntfarbige in der


Die Münchner Ausstellungen

stattgefunden. Die Realkunst der Renaissance stellte sich den ausgeschriebnen
Formen der gotischen Jdecilkuust gegenüber. Fast in wissenschaftlicher Weise gingen
die Künstler vor, jeder in seiner Art an der Erneuerung der Kunst arbeitend. Bei
allen zeigt sich ein Zwiespalt zwischen Inhalt und Form. Die heiligen Gegen¬
stände — andre kannte die Kunst damals noch sast gar nicht — bildeten nur
den Vorwand. Fra Filippo z. B. malte seine Engel als Mädchengestalten mit
sinnlichen Gesichtern. Erst Rciphael vermochte das Sinnliche mit dem Über¬
sinnlichen wieder in Einklang zu setzen.

Natürlich wiederholt sich in der Geschichte nichts ganz gleichmäßig, und
deshalb kann der Vergleich zwischen der archaischen Florentiner Kunst und der
archaisch-modernen auch nur bedingungsweise gezogen werden. Es treten eben
jetzt ganz besondre Verhältnisse hinzu.

Betrachten wir einige der Sczessionistenbilder. Als besonders interessant
fällt das Gemälde von Albert Keller auf. Nonnen knieen betend um das Lager
einer toten Schwester. Keller gehört nicht zu den Jüngsten, er ist von früher
bekannt durch seinen reichen Farbensinn. Er hat sich aber den Sezessionisten
angeschlossen und, ihrem Prinzip folgend, sein Gemälde ganz unter die Herr¬
schaft des Lichts gestellt. In einem Raum, der ganz von Kerzendunst erfüllt
ist, fällt von außen spärliches Licht, und die gelben Flammen der Kerzen werfen
ihre gelben Reflexe in die blaugrauen Dunstmassen; die Gesichter der Nonnen
blicken daraus nur undeutlich hervor. Aber wie bei den sinnlichen Engeln des
Fra Filippo ist auch hier die Aufgabe nicht streng erfaßt; das sind gar nicht
die harten und kalten Gesichter von Nonnen, es sind als Nonnen verkleidete
Weiber in der vollen Entwicklung ihrer Sinnlichkeit.

Die Sezessionisten verzichten darauf, organisch reife Kunstwerke zu schaffen.
Mit derselben Wissenschaftlichkeit wie im Quattrocento wird von jedem Künstler
nur eine Seite der Aufgabe erfaßt. Hugo König giebt in seiner Winterland¬
schaft vor allem das Lockere des Schnees und die eigentümlichen Dunsterschei-
uungen, die die feuchte, zum Tau neigende Winterluft erzeugt, Zügel das Dick¬
wollige der Schafe und die grüne Wildnis des Grases mit einer Gegen¬
ständlichkeit, daß man glaubt, das Fett zu fühlen und sich in dem dichten
Grase verstricken zu können. Die Künstler haben sich auf den Standpunkt
des reinen Sehens gestellt, sie wollen gar nicht mehr geben, als was das
Auge erfaßt. Ganz deutlich aber sieht das Auge, wie der photographische
Apparat, immer nur einen Plau, aber nicht neben dem Vordergründe
gleichzeitig den weit entfernten Hintergrund; darum ist der Hintergrund der
meisten modernen Bilder verschwommen und nur in großen Zügen ange¬
geben. Früher waren Gemälde die dnrch Reflexion umgestaltete Wirklichkeit,
jetzt sind sie nur durch das Auge ohne idealisirende Gehirnarbeit gesehne Wirk¬
lichkeit. Es ist das ein künstliches Zurückschrauben ins Primitive. Darum
lieben auch die Künstler das Bäurische darzustellen. Das buntfarbige in der


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[0468] Die Münchner Ausstellungen stattgefunden. Die Realkunst der Renaissance stellte sich den ausgeschriebnen Formen der gotischen Jdecilkuust gegenüber. Fast in wissenschaftlicher Weise gingen die Künstler vor, jeder in seiner Art an der Erneuerung der Kunst arbeitend. Bei allen zeigt sich ein Zwiespalt zwischen Inhalt und Form. Die heiligen Gegen¬ stände — andre kannte die Kunst damals noch sast gar nicht — bildeten nur den Vorwand. Fra Filippo z. B. malte seine Engel als Mädchengestalten mit sinnlichen Gesichtern. Erst Rciphael vermochte das Sinnliche mit dem Über¬ sinnlichen wieder in Einklang zu setzen. Natürlich wiederholt sich in der Geschichte nichts ganz gleichmäßig, und deshalb kann der Vergleich zwischen der archaischen Florentiner Kunst und der archaisch-modernen auch nur bedingungsweise gezogen werden. Es treten eben jetzt ganz besondre Verhältnisse hinzu. Betrachten wir einige der Sczessionistenbilder. Als besonders interessant fällt das Gemälde von Albert Keller auf. Nonnen knieen betend um das Lager einer toten Schwester. Keller gehört nicht zu den Jüngsten, er ist von früher bekannt durch seinen reichen Farbensinn. Er hat sich aber den Sezessionisten angeschlossen und, ihrem Prinzip folgend, sein Gemälde ganz unter die Herr¬ schaft des Lichts gestellt. In einem Raum, der ganz von Kerzendunst erfüllt ist, fällt von außen spärliches Licht, und die gelben Flammen der Kerzen werfen ihre gelben Reflexe in die blaugrauen Dunstmassen; die Gesichter der Nonnen blicken daraus nur undeutlich hervor. Aber wie bei den sinnlichen Engeln des Fra Filippo ist auch hier die Aufgabe nicht streng erfaßt; das sind gar nicht die harten und kalten Gesichter von Nonnen, es sind als Nonnen verkleidete Weiber in der vollen Entwicklung ihrer Sinnlichkeit. Die Sezessionisten verzichten darauf, organisch reife Kunstwerke zu schaffen. Mit derselben Wissenschaftlichkeit wie im Quattrocento wird von jedem Künstler nur eine Seite der Aufgabe erfaßt. Hugo König giebt in seiner Winterland¬ schaft vor allem das Lockere des Schnees und die eigentümlichen Dunsterschei- uungen, die die feuchte, zum Tau neigende Winterluft erzeugt, Zügel das Dick¬ wollige der Schafe und die grüne Wildnis des Grases mit einer Gegen¬ ständlichkeit, daß man glaubt, das Fett zu fühlen und sich in dem dichten Grase verstricken zu können. Die Künstler haben sich auf den Standpunkt des reinen Sehens gestellt, sie wollen gar nicht mehr geben, als was das Auge erfaßt. Ganz deutlich aber sieht das Auge, wie der photographische Apparat, immer nur einen Plau, aber nicht neben dem Vordergründe gleichzeitig den weit entfernten Hintergrund; darum ist der Hintergrund der meisten modernen Bilder verschwommen und nur in großen Zügen ange¬ geben. Früher waren Gemälde die dnrch Reflexion umgestaltete Wirklichkeit, jetzt sind sie nur durch das Auge ohne idealisirende Gehirnarbeit gesehne Wirk¬ lichkeit. Es ist das ein künstliches Zurückschrauben ins Primitive. Darum lieben auch die Künstler das Bäurische darzustellen. Das buntfarbige in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/468>, abgerufen am 28.07.2024.