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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Charles Kingsley als Dichter und Sozialreforiner

keinen Mann, um den sie sich vereinigen konnten; aber die durch Schönheit,
Bildung und Charakter ausgezeichnete Philosophin Hhpatia hatte soviel Macht
und Einfluß, daß sie von ganz Alexandria als die Säule der hellenischen
Bildung und der alten Götterlehre angesehen wurde.

So sind die Zustände beim Beginn des Romans. Hhpatia nun hält
öffentliche Vorlesungen. Sie wird dabei von ihrem Bater, dem Mathematiker
Theon, unterstützt und von dein Präfekten Orestes, einem Christen und byzan¬
tinischen Beamten, begünstigt. Orestes schätzt sie sehr hoch und geht häufig
zu ihr, um sich in schwierigen Staatsgeschäften von ihr Rat und Hilfe zu
holen. Um so mehr wird Hhpatia von dem Bischof Chrill und den Mönchen
gehaßt. Dieser Haß wird zur Wut, als die christlichen Fanatiker sehen, daß
selbst ein Mönch, der junge Philammon, von ihrem Geiste und ihrer Schönheit
berauscht, in die Reihe ihrer Schüler tritt. Philammon ist dreihundert Meilen
von Alexandria in einer kleinen Ansiedlung, dem öden, von griechischen und
ägyptischen Tempelresten umgebnen Laura, aufgewachsen. Der Abt Arsenius
hat ihn und seine Schwester Pelagia eines Tages auf dem Sklavenmarkte ge¬
kauft; aber die schöne Pelagia ist in Alexandria geblieben und die Geliebte des
Gotenfürsten Amat geworden, während Philammon unter den Griechen zu
einem frommen Christen heranreift. Die Sehnsucht, sein Christentum in der
heidnischen Welt zu bewähren, treibt ihn ans Laura nach Alexandria. Hier
gerät er sofort in einen blutigen Aufstand, der von dem Bischof Chrill ins
Werk gesetzt worden ist, und durch den die Juden ans Alexandria von den
Mönchen vertriebe" werden. Bei dein Anblick der entsetzlichen Greuel wird
Philammon an dem herrschenden Geiste des Christentums irre.

Ein alter Priester öffnet ihm die Augen, und er erkennt die schmachvollen
Zustände der Kirche, die irdischen Gelüste des Klerus und den rohen, gewalt¬
thätigen Charakter der Mönche und der großen Masse. Er lernt Hhpatia in
ihrer edeln, vornehmen, menschenfreundlichen Lehre kennen und vergleicht sie
mit den christlichen Priestern, die ihren Mangel an Bildung durch Fanatismus
zu ersetzen suchen. "Ihr Gespräch bestand aus Klatschereien und Unanständig¬
keiten, und die meisten von ihnen waren scharf und hart in ihrem Urteil. Sie
sprachen von jenes Mannes Ehrgeiz, von dieses Weibes stolzen Blicken; sie
unterhielten sich darüber, wer zum Abendmahl geblieben war, und wer die
Kirche nach der Predigt verlassen hatte, und wie die Mehrzahl, die uicht da
blieb, es wagen konnte, fortzugehen, und wie die Minderzahl, die nicht weg¬
ging, es gewagt hatte, zu bleiben. Endloser Verdacht, höhnische Spottreden
und Klagen -- was lag ihnen an der einigen Herrlichkeit und an der be¬
seligenden Andacht? Ihr einziger Maßstab im Urteil über Menschen und Dinge
vom Patriarchen bis zum Präfekten war der: fördert er oder es die Sache
der Kirche? Und Philammon entdeckte bald, daß sie darunter ihre eigne Sache,
ihren Einfluß, ihre Selbstverherrlichung verstanden. Und wenn sie von Orestes


Charles Kingsley als Dichter und Sozialreforiner

keinen Mann, um den sie sich vereinigen konnten; aber die durch Schönheit,
Bildung und Charakter ausgezeichnete Philosophin Hhpatia hatte soviel Macht
und Einfluß, daß sie von ganz Alexandria als die Säule der hellenischen
Bildung und der alten Götterlehre angesehen wurde.

So sind die Zustände beim Beginn des Romans. Hhpatia nun hält
öffentliche Vorlesungen. Sie wird dabei von ihrem Bater, dem Mathematiker
Theon, unterstützt und von dein Präfekten Orestes, einem Christen und byzan¬
tinischen Beamten, begünstigt. Orestes schätzt sie sehr hoch und geht häufig
zu ihr, um sich in schwierigen Staatsgeschäften von ihr Rat und Hilfe zu
holen. Um so mehr wird Hhpatia von dem Bischof Chrill und den Mönchen
gehaßt. Dieser Haß wird zur Wut, als die christlichen Fanatiker sehen, daß
selbst ein Mönch, der junge Philammon, von ihrem Geiste und ihrer Schönheit
berauscht, in die Reihe ihrer Schüler tritt. Philammon ist dreihundert Meilen
von Alexandria in einer kleinen Ansiedlung, dem öden, von griechischen und
ägyptischen Tempelresten umgebnen Laura, aufgewachsen. Der Abt Arsenius
hat ihn und seine Schwester Pelagia eines Tages auf dem Sklavenmarkte ge¬
kauft; aber die schöne Pelagia ist in Alexandria geblieben und die Geliebte des
Gotenfürsten Amat geworden, während Philammon unter den Griechen zu
einem frommen Christen heranreift. Die Sehnsucht, sein Christentum in der
heidnischen Welt zu bewähren, treibt ihn ans Laura nach Alexandria. Hier
gerät er sofort in einen blutigen Aufstand, der von dem Bischof Chrill ins
Werk gesetzt worden ist, und durch den die Juden ans Alexandria von den
Mönchen vertriebe« werden. Bei dein Anblick der entsetzlichen Greuel wird
Philammon an dem herrschenden Geiste des Christentums irre.

Ein alter Priester öffnet ihm die Augen, und er erkennt die schmachvollen
Zustände der Kirche, die irdischen Gelüste des Klerus und den rohen, gewalt¬
thätigen Charakter der Mönche und der großen Masse. Er lernt Hhpatia in
ihrer edeln, vornehmen, menschenfreundlichen Lehre kennen und vergleicht sie
mit den christlichen Priestern, die ihren Mangel an Bildung durch Fanatismus
zu ersetzen suchen. „Ihr Gespräch bestand aus Klatschereien und Unanständig¬
keiten, und die meisten von ihnen waren scharf und hart in ihrem Urteil. Sie
sprachen von jenes Mannes Ehrgeiz, von dieses Weibes stolzen Blicken; sie
unterhielten sich darüber, wer zum Abendmahl geblieben war, und wer die
Kirche nach der Predigt verlassen hatte, und wie die Mehrzahl, die uicht da
blieb, es wagen konnte, fortzugehen, und wie die Minderzahl, die nicht weg¬
ging, es gewagt hatte, zu bleiben. Endloser Verdacht, höhnische Spottreden
und Klagen — was lag ihnen an der einigen Herrlichkeit und an der be¬
seligenden Andacht? Ihr einziger Maßstab im Urteil über Menschen und Dinge
vom Patriarchen bis zum Präfekten war der: fördert er oder es die Sache
der Kirche? Und Philammon entdeckte bald, daß sie darunter ihre eigne Sache,
ihren Einfluß, ihre Selbstverherrlichung verstanden. Und wenn sie von Orestes


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[0461] Charles Kingsley als Dichter und Sozialreforiner keinen Mann, um den sie sich vereinigen konnten; aber die durch Schönheit, Bildung und Charakter ausgezeichnete Philosophin Hhpatia hatte soviel Macht und Einfluß, daß sie von ganz Alexandria als die Säule der hellenischen Bildung und der alten Götterlehre angesehen wurde. So sind die Zustände beim Beginn des Romans. Hhpatia nun hält öffentliche Vorlesungen. Sie wird dabei von ihrem Bater, dem Mathematiker Theon, unterstützt und von dein Präfekten Orestes, einem Christen und byzan¬ tinischen Beamten, begünstigt. Orestes schätzt sie sehr hoch und geht häufig zu ihr, um sich in schwierigen Staatsgeschäften von ihr Rat und Hilfe zu holen. Um so mehr wird Hhpatia von dem Bischof Chrill und den Mönchen gehaßt. Dieser Haß wird zur Wut, als die christlichen Fanatiker sehen, daß selbst ein Mönch, der junge Philammon, von ihrem Geiste und ihrer Schönheit berauscht, in die Reihe ihrer Schüler tritt. Philammon ist dreihundert Meilen von Alexandria in einer kleinen Ansiedlung, dem öden, von griechischen und ägyptischen Tempelresten umgebnen Laura, aufgewachsen. Der Abt Arsenius hat ihn und seine Schwester Pelagia eines Tages auf dem Sklavenmarkte ge¬ kauft; aber die schöne Pelagia ist in Alexandria geblieben und die Geliebte des Gotenfürsten Amat geworden, während Philammon unter den Griechen zu einem frommen Christen heranreift. Die Sehnsucht, sein Christentum in der heidnischen Welt zu bewähren, treibt ihn ans Laura nach Alexandria. Hier gerät er sofort in einen blutigen Aufstand, der von dem Bischof Chrill ins Werk gesetzt worden ist, und durch den die Juden ans Alexandria von den Mönchen vertriebe« werden. Bei dein Anblick der entsetzlichen Greuel wird Philammon an dem herrschenden Geiste des Christentums irre. Ein alter Priester öffnet ihm die Augen, und er erkennt die schmachvollen Zustände der Kirche, die irdischen Gelüste des Klerus und den rohen, gewalt¬ thätigen Charakter der Mönche und der großen Masse. Er lernt Hhpatia in ihrer edeln, vornehmen, menschenfreundlichen Lehre kennen und vergleicht sie mit den christlichen Priestern, die ihren Mangel an Bildung durch Fanatismus zu ersetzen suchen. „Ihr Gespräch bestand aus Klatschereien und Unanständig¬ keiten, und die meisten von ihnen waren scharf und hart in ihrem Urteil. Sie sprachen von jenes Mannes Ehrgeiz, von dieses Weibes stolzen Blicken; sie unterhielten sich darüber, wer zum Abendmahl geblieben war, und wer die Kirche nach der Predigt verlassen hatte, und wie die Mehrzahl, die uicht da blieb, es wagen konnte, fortzugehen, und wie die Minderzahl, die nicht weg¬ ging, es gewagt hatte, zu bleiben. Endloser Verdacht, höhnische Spottreden und Klagen — was lag ihnen an der einigen Herrlichkeit und an der be¬ seligenden Andacht? Ihr einziger Maßstab im Urteil über Menschen und Dinge vom Patriarchen bis zum Präfekten war der: fördert er oder es die Sache der Kirche? Und Philammon entdeckte bald, daß sie darunter ihre eigne Sache, ihren Einfluß, ihre Selbstverherrlichung verstanden. Und wenn sie von Orestes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/461>, abgerufen am 01.09.2024.