Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lharles Ringsley als Dichter und Sozialreformer

Die geistigen und seelischen Aufregungen dieser Zeit hatten Kingsley so
erschüttert, daß er sich genötigt sah, England aus mehrere Wochen zu ver¬
lassen und an den Ufern des Rheins Ruhe und körperliche Kräftigung zu
suchen. Wie wertvoll diese Rheinreise für sein dichterisches Schaffen gewesen
ist, werden wir aus seinem Romane: "1>c> ^"zg,rs ersehen. Auch viele
seiner besten Gedichte sind auf der Rheinreise entstanden, z. B. ?Inz 11^5 ?rir-
e-oss; ^8in ik I lovv lllss? oll, sui1"Z8 oannot tsll; it'ils vorlll Zoss ux auel eilf
vurlä goe8 äomr; i^g'Is, Und die Briefe, die er aus Deutschland an
seine Frau schrieb, zeigen, welche Lebensfrische, welch dichterischer Schwung,
welche Begeisterung und Schaffensfreudigkeit sich wieder seiner Seele bemächtigt
hatten. Sein Lieblingsplan, im Christentum die soziale" Grundsätze nachzu¬
weisen und seine Gedanken darüber in einem großen historischen Romane dar¬
zustellen, wurde auf seiner Rheinreise immer klarer und lebendiger. Das fünfte
Jahrhundert, wo das junge Christentum triumphirte und das kraftlose Alter¬
tum zusammenbrach, hatte seine Phantasie völlig gefangen genommen. "Ich
möchte --sagt er -- den Grundgedanken entwickeln, daß das Christentum recht
eigentlich ein demokratischer Glaube ist, dem die Philosophie als das aus¬
schließlich aristokratische Bekenntnis gegenübersteht. Ich bin schon lange dieser
Ansicht, und was ich neuerdings gelesen habe, hat meine Auffassung nur be¬
stärkt. Ich glaube, ein solches Buch könnte jetzt gerade Nutzen stiften, wo
die Schriftgelehrten und Pharisäer, heidnische wie christliche, sagen: dies Volk,
das nichts von Gott weiß, ist verflucht!"

Nirgends und zu keiner Zeit ist dieser demokratische Geist des Christen¬
tums mächtiger und rücksichtsloser hervorgetreten als in Alexandria im fünften
Jahrhundert. Aber nirgends ist auch der Geist des Christentums von der
Kirche und ihren Vertretern weniger verstanden und zum Wohle der Mensch¬
heit verwertet worden, als damals von den alexandrinischen Fanatikern. Vor
den elenden dogmatischen Zänkereien vergaß die östliche Kirche ihre gewaltigen
sozialen Aufgaben. Von einem blinden asketischen Geiste verfolgt, verwarf sie
die Ideen der Familie und des nationalen Lebens, eiferte für Weltflucht und
mönchisches Leben und schuf auf Erden eine krankhafte "religiöse Welt." Und
während sich die Glieder dieser entnervten Kirche um dogmatischer Streitfragen
willen haßten, lästerten und verfolgten, gerieten sie in den Sturmwind der
mohammedanischen Religion und gingen elend zu Grunde. Den Anfang dieser
Verirrungen des orientalischen Christentums bildet die schmachvolle Ermordung
der Philosophin Hupatia in Alexandria im Jahre 415 u. Chr. Das Ende
dieser edeln, hochgebildeten Frau, die, trotz der Mißerfolge Kaiser Julians,
noch einmal die griechische Philosophie auf den Schild zu heben versuchte und
un Kampfe mit den fanatischen Mönchen und dem brutalen Bischof Cyrill
einen entsetzlichen Tod fand, mußte Kingslch ganz besonders reizen. Denn
zu den sozialen Ideen und Bestrebungen, die ihn: das fünfte Jahrhundert bot,


Lharles Ringsley als Dichter und Sozialreformer

Die geistigen und seelischen Aufregungen dieser Zeit hatten Kingsley so
erschüttert, daß er sich genötigt sah, England aus mehrere Wochen zu ver¬
lassen und an den Ufern des Rheins Ruhe und körperliche Kräftigung zu
suchen. Wie wertvoll diese Rheinreise für sein dichterisches Schaffen gewesen
ist, werden wir aus seinem Romane: "1>c> ^«zg,rs ersehen. Auch viele
seiner besten Gedichte sind auf der Rheinreise entstanden, z. B. ?Inz 11^5 ?rir-
e-oss; ^8in ik I lovv lllss? oll, sui1«Z8 oannot tsll; it'ils vorlll Zoss ux auel eilf
vurlä goe8 äomr; i^g'Is, Und die Briefe, die er aus Deutschland an
seine Frau schrieb, zeigen, welche Lebensfrische, welch dichterischer Schwung,
welche Begeisterung und Schaffensfreudigkeit sich wieder seiner Seele bemächtigt
hatten. Sein Lieblingsplan, im Christentum die soziale» Grundsätze nachzu¬
weisen und seine Gedanken darüber in einem großen historischen Romane dar¬
zustellen, wurde auf seiner Rheinreise immer klarer und lebendiger. Das fünfte
Jahrhundert, wo das junge Christentum triumphirte und das kraftlose Alter¬
tum zusammenbrach, hatte seine Phantasie völlig gefangen genommen. „Ich
möchte —sagt er — den Grundgedanken entwickeln, daß das Christentum recht
eigentlich ein demokratischer Glaube ist, dem die Philosophie als das aus¬
schließlich aristokratische Bekenntnis gegenübersteht. Ich bin schon lange dieser
Ansicht, und was ich neuerdings gelesen habe, hat meine Auffassung nur be¬
stärkt. Ich glaube, ein solches Buch könnte jetzt gerade Nutzen stiften, wo
die Schriftgelehrten und Pharisäer, heidnische wie christliche, sagen: dies Volk,
das nichts von Gott weiß, ist verflucht!"

Nirgends und zu keiner Zeit ist dieser demokratische Geist des Christen¬
tums mächtiger und rücksichtsloser hervorgetreten als in Alexandria im fünften
Jahrhundert. Aber nirgends ist auch der Geist des Christentums von der
Kirche und ihren Vertretern weniger verstanden und zum Wohle der Mensch¬
heit verwertet worden, als damals von den alexandrinischen Fanatikern. Vor
den elenden dogmatischen Zänkereien vergaß die östliche Kirche ihre gewaltigen
sozialen Aufgaben. Von einem blinden asketischen Geiste verfolgt, verwarf sie
die Ideen der Familie und des nationalen Lebens, eiferte für Weltflucht und
mönchisches Leben und schuf auf Erden eine krankhafte „religiöse Welt." Und
während sich die Glieder dieser entnervten Kirche um dogmatischer Streitfragen
willen haßten, lästerten und verfolgten, gerieten sie in den Sturmwind der
mohammedanischen Religion und gingen elend zu Grunde. Den Anfang dieser
Verirrungen des orientalischen Christentums bildet die schmachvolle Ermordung
der Philosophin Hupatia in Alexandria im Jahre 415 u. Chr. Das Ende
dieser edeln, hochgebildeten Frau, die, trotz der Mißerfolge Kaiser Julians,
noch einmal die griechische Philosophie auf den Schild zu heben versuchte und
un Kampfe mit den fanatischen Mönchen und dem brutalen Bischof Cyrill
einen entsetzlichen Tod fand, mußte Kingslch ganz besonders reizen. Denn
zu den sozialen Ideen und Bestrebungen, die ihn: das fünfte Jahrhundert bot,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0459" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215549"/>
            <fw type="header" place="top"> Lharles Ringsley als Dichter und Sozialreformer</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1604"> Die geistigen und seelischen Aufregungen dieser Zeit hatten Kingsley so<lb/>
erschüttert, daß er sich genötigt sah, England aus mehrere Wochen zu ver¬<lb/>
lassen und an den Ufern des Rheins Ruhe und körperliche Kräftigung zu<lb/>
suchen. Wie wertvoll diese Rheinreise für sein dichterisches Schaffen gewesen<lb/>
ist, werden wir aus seinem Romane: "1&gt;c&gt; ^«zg,rs ersehen. Auch viele<lb/>
seiner besten Gedichte sind auf der Rheinreise entstanden, z. B. ?Inz 11^5 ?rir-<lb/>
e-oss; ^8in ik I lovv lllss? oll, sui1«Z8 oannot tsll; it'ils vorlll Zoss ux auel eilf<lb/>
vurlä goe8 äomr; i^g'Is, Und die Briefe, die er aus Deutschland an<lb/>
seine Frau schrieb, zeigen, welche Lebensfrische, welch dichterischer Schwung,<lb/>
welche Begeisterung und Schaffensfreudigkeit sich wieder seiner Seele bemächtigt<lb/>
hatten. Sein Lieblingsplan, im Christentum die soziale» Grundsätze nachzu¬<lb/>
weisen und seine Gedanken darüber in einem großen historischen Romane dar¬<lb/>
zustellen, wurde auf seiner Rheinreise immer klarer und lebendiger. Das fünfte<lb/>
Jahrhundert, wo das junge Christentum triumphirte und das kraftlose Alter¬<lb/>
tum zusammenbrach, hatte seine Phantasie völlig gefangen genommen. &#x201E;Ich<lb/>
möchte &#x2014;sagt er &#x2014; den Grundgedanken entwickeln, daß das Christentum recht<lb/>
eigentlich ein demokratischer Glaube ist, dem die Philosophie als das aus¬<lb/>
schließlich aristokratische Bekenntnis gegenübersteht. Ich bin schon lange dieser<lb/>
Ansicht, und was ich neuerdings gelesen habe, hat meine Auffassung nur be¬<lb/>
stärkt. Ich glaube, ein solches Buch könnte jetzt gerade Nutzen stiften, wo<lb/>
die Schriftgelehrten und Pharisäer, heidnische wie christliche, sagen: dies Volk,<lb/>
das nichts von Gott weiß, ist verflucht!"</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1605" next="#ID_1606"> Nirgends und zu keiner Zeit ist dieser demokratische Geist des Christen¬<lb/>
tums mächtiger und rücksichtsloser hervorgetreten als in Alexandria im fünften<lb/>
Jahrhundert. Aber nirgends ist auch der Geist des Christentums von der<lb/>
Kirche und ihren Vertretern weniger verstanden und zum Wohle der Mensch¬<lb/>
heit verwertet worden, als damals von den alexandrinischen Fanatikern. Vor<lb/>
den elenden dogmatischen Zänkereien vergaß die östliche Kirche ihre gewaltigen<lb/>
sozialen Aufgaben. Von einem blinden asketischen Geiste verfolgt, verwarf sie<lb/>
die Ideen der Familie und des nationalen Lebens, eiferte für Weltflucht und<lb/>
mönchisches Leben und schuf auf Erden eine krankhafte &#x201E;religiöse Welt." Und<lb/>
während sich die Glieder dieser entnervten Kirche um dogmatischer Streitfragen<lb/>
willen haßten, lästerten und verfolgten, gerieten sie in den Sturmwind der<lb/>
mohammedanischen Religion und gingen elend zu Grunde. Den Anfang dieser<lb/>
Verirrungen des orientalischen Christentums bildet die schmachvolle Ermordung<lb/>
der Philosophin Hupatia in Alexandria im Jahre 415 u. Chr. Das Ende<lb/>
dieser edeln, hochgebildeten Frau, die, trotz der Mißerfolge Kaiser Julians,<lb/>
noch einmal die griechische Philosophie auf den Schild zu heben versuchte und<lb/>
un Kampfe mit den fanatischen Mönchen und dem brutalen Bischof Cyrill<lb/>
einen entsetzlichen Tod fand, mußte Kingslch ganz besonders reizen. Denn<lb/>
zu den sozialen Ideen und Bestrebungen, die ihn: das fünfte Jahrhundert bot,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0459] Lharles Ringsley als Dichter und Sozialreformer Die geistigen und seelischen Aufregungen dieser Zeit hatten Kingsley so erschüttert, daß er sich genötigt sah, England aus mehrere Wochen zu ver¬ lassen und an den Ufern des Rheins Ruhe und körperliche Kräftigung zu suchen. Wie wertvoll diese Rheinreise für sein dichterisches Schaffen gewesen ist, werden wir aus seinem Romane: "1>c> ^«zg,rs ersehen. Auch viele seiner besten Gedichte sind auf der Rheinreise entstanden, z. B. ?Inz 11^5 ?rir- e-oss; ^8in ik I lovv lllss? oll, sui1«Z8 oannot tsll; it'ils vorlll Zoss ux auel eilf vurlä goe8 äomr; i^g'Is, Und die Briefe, die er aus Deutschland an seine Frau schrieb, zeigen, welche Lebensfrische, welch dichterischer Schwung, welche Begeisterung und Schaffensfreudigkeit sich wieder seiner Seele bemächtigt hatten. Sein Lieblingsplan, im Christentum die soziale» Grundsätze nachzu¬ weisen und seine Gedanken darüber in einem großen historischen Romane dar¬ zustellen, wurde auf seiner Rheinreise immer klarer und lebendiger. Das fünfte Jahrhundert, wo das junge Christentum triumphirte und das kraftlose Alter¬ tum zusammenbrach, hatte seine Phantasie völlig gefangen genommen. „Ich möchte —sagt er — den Grundgedanken entwickeln, daß das Christentum recht eigentlich ein demokratischer Glaube ist, dem die Philosophie als das aus¬ schließlich aristokratische Bekenntnis gegenübersteht. Ich bin schon lange dieser Ansicht, und was ich neuerdings gelesen habe, hat meine Auffassung nur be¬ stärkt. Ich glaube, ein solches Buch könnte jetzt gerade Nutzen stiften, wo die Schriftgelehrten und Pharisäer, heidnische wie christliche, sagen: dies Volk, das nichts von Gott weiß, ist verflucht!" Nirgends und zu keiner Zeit ist dieser demokratische Geist des Christen¬ tums mächtiger und rücksichtsloser hervorgetreten als in Alexandria im fünften Jahrhundert. Aber nirgends ist auch der Geist des Christentums von der Kirche und ihren Vertretern weniger verstanden und zum Wohle der Mensch¬ heit verwertet worden, als damals von den alexandrinischen Fanatikern. Vor den elenden dogmatischen Zänkereien vergaß die östliche Kirche ihre gewaltigen sozialen Aufgaben. Von einem blinden asketischen Geiste verfolgt, verwarf sie die Ideen der Familie und des nationalen Lebens, eiferte für Weltflucht und mönchisches Leben und schuf auf Erden eine krankhafte „religiöse Welt." Und während sich die Glieder dieser entnervten Kirche um dogmatischer Streitfragen willen haßten, lästerten und verfolgten, gerieten sie in den Sturmwind der mohammedanischen Religion und gingen elend zu Grunde. Den Anfang dieser Verirrungen des orientalischen Christentums bildet die schmachvolle Ermordung der Philosophin Hupatia in Alexandria im Jahre 415 u. Chr. Das Ende dieser edeln, hochgebildeten Frau, die, trotz der Mißerfolge Kaiser Julians, noch einmal die griechische Philosophie auf den Schild zu heben versuchte und un Kampfe mit den fanatischen Mönchen und dem brutalen Bischof Cyrill einen entsetzlichen Tod fand, mußte Kingslch ganz besonders reizen. Denn zu den sozialen Ideen und Bestrebungen, die ihn: das fünfte Jahrhundert bot,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/459
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/459>, abgerufen am 01.09.2024.