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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Lbarles Kingsley als Dichter und Sozialreforiner

fürchterliche die Luft schwer vom Pesthauch. Beim ersten Atemzuge wurde
mir das Herz schwach, und es ergriff mich Übelkeit. Doch ich vergaß alles
über dein Anblick, der sich mir bot, als Dvwnes einen halbfertigen vornehmen
Rock von drei Leichen riß, die neben einander auf dem Fußboden lagen. Es
war seine kleine irische Frau, tot und nackt. Die abgezehrten, weißen Glieder
schimmerten in dem flackernden Schein der Kerze. Die gebrochnen Augen
starrten, wie mit stillem Vorwurf, den Mann an, dessen Trunksucht sie hierher
gebracht hatte, wo sie der Pestilenz erliegen mußte. Auf jeder Seite von ihr
lag eine kleine, zusammengeschrumpfte gnomenhafte Kinderleiche. Der Elende
hatte ihre Arme um deu Hals der Mutter gelegt; da schliefen sie nun, nach¬
dem ihr Hungern und Jammern endlich für immer gestillt war. Die Ratten
hatten sich schon über sie hergemacht -- doch was kümmerte sie das jetzt?"
Jenny Downes stürzt sich in den Kanal, von dem uns der Dichter eine
grauenhafte Beschreibung giebt. Der Armenkommisfar erscheint und notirt den
Fall, wie es das Gesetz vorschreibt. "Blindes, abergläubisches, stumpfsinniges
Gesetz! Du lässest die Opfer hilflos sterben, dann aber, wenn Fieber und
Tyrannei ihr Werk vollbracht haben, beschwichtigst du mit salbungsvoller
Scheinheiligkeit dein ehrenwertes Gewissen durch eine "gründliche Unter¬
suchung," wie sich alles zugetragen habe. Es könnte ja "faules Spiel" vor¬
liegen." Aber Kingsley mußte grelle Lichter aufsetzen und schreiende Farben
wählen, um die Gleichgiltigkeit der Gebildeten zu überwinden und die ma߬
gebende Gesellschaft zum Handeln aufzuregen.

Kingsley war mit einem Schlage der Apostel des Sozialismus geworden.
Sein Buch wirkte wahre Wunder. Überall regten sich die Geister und die
Hände, um deu Arbeitern zu helfen. Man warf den höhern Klassen vor, daß
sie ihre Pflichten versäumt Hütten und schuld all dem allgemeinen Elend seien.
An vielen Orten entstanden unter den Handwerkern Produktivgenossenschaften,
um zu verhindern, daß die Arbeiter noch länger in so unerhörter Weise aus¬
gesogen würden. Die christlichen Sozialisten wurden auf einmal populär. Sie
gründete" eine "Gesellschaft zur Förderung von Arbeiterassoziationen"; ihr
Schutz sollte nicht mir den Handwerkern gelten, sondern auch den Landarbeitern.
Vom Lord Ellerton erzählt Kingsley in seinem Roman: "Er war damals
gerade eifrig damit beschäftigt, ein altes unbewohntes Herrenhaus zu einer
Gesellschaftsfarm umzugestalten, wo alle Arbeiter unter einem Dache leben
sollten, mit gemeinsamer Küche und Speisehalle, unter selbstgewühltcu Rech-
nungs- und Aufsichtsbeamten, für die er sich nur das Bestätigungsrecht vor¬
behielt. Vom ersten bis zum letzten sollten sie alle ihren Anteil an der Farm
haben und ihren Prozentsatz vom Ertrag erhalten." Nach diesem Muster
sollten sich nun alle Arbeiter zu kleinen Genossenschaften vereinigen.

Kingsleys Freunde gründeten 1850 eine neue Wochenschrift ?it"z (AiriLtmn
8vois.Il8t, Ä .7uni'NAl c>t ^ZsoLmtion, und er selbst schrieb 1851 eine Broschüre


Lbarles Kingsley als Dichter und Sozialreforiner

fürchterliche die Luft schwer vom Pesthauch. Beim ersten Atemzuge wurde
mir das Herz schwach, und es ergriff mich Übelkeit. Doch ich vergaß alles
über dein Anblick, der sich mir bot, als Dvwnes einen halbfertigen vornehmen
Rock von drei Leichen riß, die neben einander auf dem Fußboden lagen. Es
war seine kleine irische Frau, tot und nackt. Die abgezehrten, weißen Glieder
schimmerten in dem flackernden Schein der Kerze. Die gebrochnen Augen
starrten, wie mit stillem Vorwurf, den Mann an, dessen Trunksucht sie hierher
gebracht hatte, wo sie der Pestilenz erliegen mußte. Auf jeder Seite von ihr
lag eine kleine, zusammengeschrumpfte gnomenhafte Kinderleiche. Der Elende
hatte ihre Arme um deu Hals der Mutter gelegt; da schliefen sie nun, nach¬
dem ihr Hungern und Jammern endlich für immer gestillt war. Die Ratten
hatten sich schon über sie hergemacht — doch was kümmerte sie das jetzt?"
Jenny Downes stürzt sich in den Kanal, von dem uns der Dichter eine
grauenhafte Beschreibung giebt. Der Armenkommisfar erscheint und notirt den
Fall, wie es das Gesetz vorschreibt. „Blindes, abergläubisches, stumpfsinniges
Gesetz! Du lässest die Opfer hilflos sterben, dann aber, wenn Fieber und
Tyrannei ihr Werk vollbracht haben, beschwichtigst du mit salbungsvoller
Scheinheiligkeit dein ehrenwertes Gewissen durch eine »gründliche Unter¬
suchung,« wie sich alles zugetragen habe. Es könnte ja »faules Spiel« vor¬
liegen." Aber Kingsley mußte grelle Lichter aufsetzen und schreiende Farben
wählen, um die Gleichgiltigkeit der Gebildeten zu überwinden und die ma߬
gebende Gesellschaft zum Handeln aufzuregen.

Kingsley war mit einem Schlage der Apostel des Sozialismus geworden.
Sein Buch wirkte wahre Wunder. Überall regten sich die Geister und die
Hände, um deu Arbeitern zu helfen. Man warf den höhern Klassen vor, daß
sie ihre Pflichten versäumt Hütten und schuld all dem allgemeinen Elend seien.
An vielen Orten entstanden unter den Handwerkern Produktivgenossenschaften,
um zu verhindern, daß die Arbeiter noch länger in so unerhörter Weise aus¬
gesogen würden. Die christlichen Sozialisten wurden auf einmal populär. Sie
gründete» eine „Gesellschaft zur Förderung von Arbeiterassoziationen"; ihr
Schutz sollte nicht mir den Handwerkern gelten, sondern auch den Landarbeitern.
Vom Lord Ellerton erzählt Kingsley in seinem Roman: „Er war damals
gerade eifrig damit beschäftigt, ein altes unbewohntes Herrenhaus zu einer
Gesellschaftsfarm umzugestalten, wo alle Arbeiter unter einem Dache leben
sollten, mit gemeinsamer Küche und Speisehalle, unter selbstgewühltcu Rech-
nungs- und Aufsichtsbeamten, für die er sich nur das Bestätigungsrecht vor¬
behielt. Vom ersten bis zum letzten sollten sie alle ihren Anteil an der Farm
haben und ihren Prozentsatz vom Ertrag erhalten." Nach diesem Muster
sollten sich nun alle Arbeiter zu kleinen Genossenschaften vereinigen.

Kingsleys Freunde gründeten 1850 eine neue Wochenschrift ?it«z (AiriLtmn
8vois.Il8t, Ä .7uni'NAl c>t ^ZsoLmtion, und er selbst schrieb 1851 eine Broschüre


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[0456] Lbarles Kingsley als Dichter und Sozialreforiner fürchterliche die Luft schwer vom Pesthauch. Beim ersten Atemzuge wurde mir das Herz schwach, und es ergriff mich Übelkeit. Doch ich vergaß alles über dein Anblick, der sich mir bot, als Dvwnes einen halbfertigen vornehmen Rock von drei Leichen riß, die neben einander auf dem Fußboden lagen. Es war seine kleine irische Frau, tot und nackt. Die abgezehrten, weißen Glieder schimmerten in dem flackernden Schein der Kerze. Die gebrochnen Augen starrten, wie mit stillem Vorwurf, den Mann an, dessen Trunksucht sie hierher gebracht hatte, wo sie der Pestilenz erliegen mußte. Auf jeder Seite von ihr lag eine kleine, zusammengeschrumpfte gnomenhafte Kinderleiche. Der Elende hatte ihre Arme um deu Hals der Mutter gelegt; da schliefen sie nun, nach¬ dem ihr Hungern und Jammern endlich für immer gestillt war. Die Ratten hatten sich schon über sie hergemacht — doch was kümmerte sie das jetzt?" Jenny Downes stürzt sich in den Kanal, von dem uns der Dichter eine grauenhafte Beschreibung giebt. Der Armenkommisfar erscheint und notirt den Fall, wie es das Gesetz vorschreibt. „Blindes, abergläubisches, stumpfsinniges Gesetz! Du lässest die Opfer hilflos sterben, dann aber, wenn Fieber und Tyrannei ihr Werk vollbracht haben, beschwichtigst du mit salbungsvoller Scheinheiligkeit dein ehrenwertes Gewissen durch eine »gründliche Unter¬ suchung,« wie sich alles zugetragen habe. Es könnte ja »faules Spiel« vor¬ liegen." Aber Kingsley mußte grelle Lichter aufsetzen und schreiende Farben wählen, um die Gleichgiltigkeit der Gebildeten zu überwinden und die ma߬ gebende Gesellschaft zum Handeln aufzuregen. Kingsley war mit einem Schlage der Apostel des Sozialismus geworden. Sein Buch wirkte wahre Wunder. Überall regten sich die Geister und die Hände, um deu Arbeitern zu helfen. Man warf den höhern Klassen vor, daß sie ihre Pflichten versäumt Hütten und schuld all dem allgemeinen Elend seien. An vielen Orten entstanden unter den Handwerkern Produktivgenossenschaften, um zu verhindern, daß die Arbeiter noch länger in so unerhörter Weise aus¬ gesogen würden. Die christlichen Sozialisten wurden auf einmal populär. Sie gründete» eine „Gesellschaft zur Förderung von Arbeiterassoziationen"; ihr Schutz sollte nicht mir den Handwerkern gelten, sondern auch den Landarbeitern. Vom Lord Ellerton erzählt Kingsley in seinem Roman: „Er war damals gerade eifrig damit beschäftigt, ein altes unbewohntes Herrenhaus zu einer Gesellschaftsfarm umzugestalten, wo alle Arbeiter unter einem Dache leben sollten, mit gemeinsamer Küche und Speisehalle, unter selbstgewühltcu Rech- nungs- und Aufsichtsbeamten, für die er sich nur das Bestätigungsrecht vor¬ behielt. Vom ersten bis zum letzten sollten sie alle ihren Anteil an der Farm haben und ihren Prozentsatz vom Ertrag erhalten." Nach diesem Muster sollten sich nun alle Arbeiter zu kleinen Genossenschaften vereinigen. Kingsleys Freunde gründeten 1850 eine neue Wochenschrift ?it«z (AiriLtmn 8vois.Il8t, Ä .7uni'NAl c>t ^ZsoLmtion, und er selbst schrieb 1851 eine Broschüre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/456>, abgerufen am 01.09.2024.