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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Massenbewegung und^ Nationalitätenpolitik in Gsterreich

Marmorbauten in der Lagunenstadt erhoben, trug Venedigs Staats- und
Haudelsmacht bereits die Todeskeime in der Brust. An treuen Warnern hat
es dem Wiener wahrlich die ganzen Jahre hindurch niemals gemangelt. Denn
noch giebt es auch in Wien eine Minderheit ernst, klar und scharf denkender
deutscher Männer. Aber auch durch die auserlesenen Reihen dieser Hochgesinnten
und Beherzten weht zur Stunde etwas wie Abendluft." Durch das ganze
Buch geht eine elegische Stimmung, die in wahrhaft künstlerischer Weise ab¬
getönt ist. Es steht hoch über der Bücher- und Schrifteuflut politischen In¬
halts, der sich jahraus jahrein über die deutsche Leserwelt ergießt; man wird
es, insbesondre in Österreich, auch später immer wieder zur Hand nehmen
müssen als Denkmal der durch langes politisches Ungemach hervorgerufenen
wehmütigen Grundstimmung der Deutschen Österreichs am Ende des Jahr¬
hunderts, das ihrem mächtigen Ausgreifen in Ungarn, Böhmen und Galizien
wenigstens vorläufig ein Ende machte.

Dumreicher sieht über dem deutsch-österreichische:: Volksstamm ein trau¬
riges Schicksal walten. Es sei ungerecht -- so führt er aus --, als Ursache
seines Rückganges eine besondre, nicht näher zu erklärende Schwäche der öster¬
reichischen Deutschen anzunehmen. Die geschichtliche Betrachtung lehre, daß
die That- und Schnellkraft der germanischen Einwanderung im Osten schon
lange gebrochen gewesen sei, bevor Österreich überhaupt bestand. Schon im fünf¬
zehnten Jahrhundert sei das deutsche Städtewesen in Böhmen geknickt, das
deutsche Bürgertum in Böhmen durch den Hussitismus ausgetilgt worden.
Ebenso verhängnisvoll sei die Türkenherrschaft für das blühende deutsche Städte-
Wesen Ungarns gewesen. Die Zeit der deutschen Kolonisation im Osten sei
mit dem Ausgange des Mittelalters zu Ende. Wohl habe die Gegenrefor¬
mation und die Zeit der Aufklärung mit ihrem kosmopolitischen Grundzug
eine rückbildende Wirkung geübt; dann aber sei Österreich durch deu Gang der
Geschichte immer mehr der Slawisirung verfallen. Durch die Einverleibung
Galiziens im achtzehnten, Bosniens im neunzehnten Jahrhundert sei das sla¬
wische Element stark vermehrt worden, Österreichs Ausschließung aus dem
deutschen Bunde, die Ablenkung des deutschen Auswandernngsstromes nach dem
Westen, das Fernbleiben des deutscheu Adels, der früher mit Borliebe im öster¬
reichischen Heere gedient hatte, vollendeten den verhängnisvollen Umschwung
der Dinge. Dazu das Emporblühen der Industrie in den deutsch-slawischen
Gebieten des Nordens, und der stationäre Zustand der Alpenländer, die immer
mehr zum menschenleeren Jagdgebiet der großen Herren aus allen Nationen
Europas werden. Mit besonder": Nachdrucke verweilt Dumreicher bei der Lage
Wiens; die Schilderung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Stadt, der Ein¬
bruch des slawischen Handwerkcrtums, die Verdrängung der besser bezahlten ein¬
heimischen Arbeitskräfte durch billige tschechische, slowakische und italienische Ar¬
beiter, die Verwischung des nationalen Charakters der Stadt -- das alles ist


Massenbewegung und^ Nationalitätenpolitik in Gsterreich

Marmorbauten in der Lagunenstadt erhoben, trug Venedigs Staats- und
Haudelsmacht bereits die Todeskeime in der Brust. An treuen Warnern hat
es dem Wiener wahrlich die ganzen Jahre hindurch niemals gemangelt. Denn
noch giebt es auch in Wien eine Minderheit ernst, klar und scharf denkender
deutscher Männer. Aber auch durch die auserlesenen Reihen dieser Hochgesinnten
und Beherzten weht zur Stunde etwas wie Abendluft." Durch das ganze
Buch geht eine elegische Stimmung, die in wahrhaft künstlerischer Weise ab¬
getönt ist. Es steht hoch über der Bücher- und Schrifteuflut politischen In¬
halts, der sich jahraus jahrein über die deutsche Leserwelt ergießt; man wird
es, insbesondre in Österreich, auch später immer wieder zur Hand nehmen
müssen als Denkmal der durch langes politisches Ungemach hervorgerufenen
wehmütigen Grundstimmung der Deutschen Österreichs am Ende des Jahr¬
hunderts, das ihrem mächtigen Ausgreifen in Ungarn, Böhmen und Galizien
wenigstens vorläufig ein Ende machte.

Dumreicher sieht über dem deutsch-österreichische:: Volksstamm ein trau¬
riges Schicksal walten. Es sei ungerecht — so führt er aus —, als Ursache
seines Rückganges eine besondre, nicht näher zu erklärende Schwäche der öster¬
reichischen Deutschen anzunehmen. Die geschichtliche Betrachtung lehre, daß
die That- und Schnellkraft der germanischen Einwanderung im Osten schon
lange gebrochen gewesen sei, bevor Österreich überhaupt bestand. Schon im fünf¬
zehnten Jahrhundert sei das deutsche Städtewesen in Böhmen geknickt, das
deutsche Bürgertum in Böhmen durch den Hussitismus ausgetilgt worden.
Ebenso verhängnisvoll sei die Türkenherrschaft für das blühende deutsche Städte-
Wesen Ungarns gewesen. Die Zeit der deutschen Kolonisation im Osten sei
mit dem Ausgange des Mittelalters zu Ende. Wohl habe die Gegenrefor¬
mation und die Zeit der Aufklärung mit ihrem kosmopolitischen Grundzug
eine rückbildende Wirkung geübt; dann aber sei Österreich durch deu Gang der
Geschichte immer mehr der Slawisirung verfallen. Durch die Einverleibung
Galiziens im achtzehnten, Bosniens im neunzehnten Jahrhundert sei das sla¬
wische Element stark vermehrt worden, Österreichs Ausschließung aus dem
deutschen Bunde, die Ablenkung des deutschen Auswandernngsstromes nach dem
Westen, das Fernbleiben des deutscheu Adels, der früher mit Borliebe im öster¬
reichischen Heere gedient hatte, vollendeten den verhängnisvollen Umschwung
der Dinge. Dazu das Emporblühen der Industrie in den deutsch-slawischen
Gebieten des Nordens, und der stationäre Zustand der Alpenländer, die immer
mehr zum menschenleeren Jagdgebiet der großen Herren aus allen Nationen
Europas werden. Mit besonder»: Nachdrucke verweilt Dumreicher bei der Lage
Wiens; die Schilderung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Stadt, der Ein¬
bruch des slawischen Handwerkcrtums, die Verdrängung der besser bezahlten ein¬
heimischen Arbeitskräfte durch billige tschechische, slowakische und italienische Ar¬
beiter, die Verwischung des nationalen Charakters der Stadt — das alles ist


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[0444] Massenbewegung und^ Nationalitätenpolitik in Gsterreich Marmorbauten in der Lagunenstadt erhoben, trug Venedigs Staats- und Haudelsmacht bereits die Todeskeime in der Brust. An treuen Warnern hat es dem Wiener wahrlich die ganzen Jahre hindurch niemals gemangelt. Denn noch giebt es auch in Wien eine Minderheit ernst, klar und scharf denkender deutscher Männer. Aber auch durch die auserlesenen Reihen dieser Hochgesinnten und Beherzten weht zur Stunde etwas wie Abendluft." Durch das ganze Buch geht eine elegische Stimmung, die in wahrhaft künstlerischer Weise ab¬ getönt ist. Es steht hoch über der Bücher- und Schrifteuflut politischen In¬ halts, der sich jahraus jahrein über die deutsche Leserwelt ergießt; man wird es, insbesondre in Österreich, auch später immer wieder zur Hand nehmen müssen als Denkmal der durch langes politisches Ungemach hervorgerufenen wehmütigen Grundstimmung der Deutschen Österreichs am Ende des Jahr¬ hunderts, das ihrem mächtigen Ausgreifen in Ungarn, Böhmen und Galizien wenigstens vorläufig ein Ende machte. Dumreicher sieht über dem deutsch-österreichische:: Volksstamm ein trau¬ riges Schicksal walten. Es sei ungerecht — so führt er aus —, als Ursache seines Rückganges eine besondre, nicht näher zu erklärende Schwäche der öster¬ reichischen Deutschen anzunehmen. Die geschichtliche Betrachtung lehre, daß die That- und Schnellkraft der germanischen Einwanderung im Osten schon lange gebrochen gewesen sei, bevor Österreich überhaupt bestand. Schon im fünf¬ zehnten Jahrhundert sei das deutsche Städtewesen in Böhmen geknickt, das deutsche Bürgertum in Böhmen durch den Hussitismus ausgetilgt worden. Ebenso verhängnisvoll sei die Türkenherrschaft für das blühende deutsche Städte- Wesen Ungarns gewesen. Die Zeit der deutschen Kolonisation im Osten sei mit dem Ausgange des Mittelalters zu Ende. Wohl habe die Gegenrefor¬ mation und die Zeit der Aufklärung mit ihrem kosmopolitischen Grundzug eine rückbildende Wirkung geübt; dann aber sei Österreich durch deu Gang der Geschichte immer mehr der Slawisirung verfallen. Durch die Einverleibung Galiziens im achtzehnten, Bosniens im neunzehnten Jahrhundert sei das sla¬ wische Element stark vermehrt worden, Österreichs Ausschließung aus dem deutschen Bunde, die Ablenkung des deutschen Auswandernngsstromes nach dem Westen, das Fernbleiben des deutscheu Adels, der früher mit Borliebe im öster¬ reichischen Heere gedient hatte, vollendeten den verhängnisvollen Umschwung der Dinge. Dazu das Emporblühen der Industrie in den deutsch-slawischen Gebieten des Nordens, und der stationäre Zustand der Alpenländer, die immer mehr zum menschenleeren Jagdgebiet der großen Herren aus allen Nationen Europas werden. Mit besonder»: Nachdrucke verweilt Dumreicher bei der Lage Wiens; die Schilderung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Stadt, der Ein¬ bruch des slawischen Handwerkcrtums, die Verdrängung der besser bezahlten ein¬ heimischen Arbeitskräfte durch billige tschechische, slowakische und italienische Ar¬ beiter, die Verwischung des nationalen Charakters der Stadt — das alles ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/444>, abgerufen am 24.11.2024.