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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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andern fortpflanzt, und der gemäß man seine wissenschaftlichen Ansichten ein¬
zurichten hat, wenn man an dieser Hochschule durchs Examen kommen will.
Daß die Studenten vor einer solchen Wissenschaft nicht sonderlich viel Achtung
haben, daß sie sich mit Lehren, die ihnen aufgezwungen werden, so spät als
möglich einlassen, wer wollte ihnen das gar zu sehr verdenken? Will man
sie aus dieser unwürdigen Lage erlösen, so genügt es aber nicht, sie der wissen-
schaftlichen Tyrannei zu entziehen, die die Professoren dnrch das Examen über
sie ausüben. Man muß weiter versuchen, ihnen wieder Liebe zu ihrem Stu¬
dium einzuflößen, und das geht nur, wenn man sich entschließt, die Praxis
unsrer Hochschulen von Grund auf umzuformen, sowohl was deu Lehrstoff,
wie was die Lehrmethode angeht. Beide, Stoff und Methode, müssen sich
von dem dürren Sandacker altersgrauer Theorie ab- und dem lebendigen Leben
zuwenden. Welchen Beruf der Student ausüben soll, das muß den Lehrstoff
bestimme", wie er ihn ausüben soll, die Methode. Das ist eine so einfache,
so selbstverständliche Wahrheit, daß man sie nur im Lande des gründlichen
Denkens hat verfehlen können. Auf unsern Hochschulen herrscht noch viel zu-
sehr der Kollegienvvrtrag, der den Professoren das Lehren so beqneiu und den
Studenten das Einpauker der Examenweisheit so leicht macht. Gewisse all¬
gemeine Gegenstände müssen ja im allgemeinen Vortrage behandelt werden.
Ungereimt aber ist es, beispielsweise die Grammatik irgend einer Sprache in
einem in Kapitel und Paragraphen eingekeilten Kolleg fünfzig bis hundert Zu¬
hörern auf einmal vorzulesen. Wozu hat denn Edison den Phonographen
erfunden? Der macht das genau so gut wie der gelehrteste Professor. Ebenso
ungereimt ist es andrerseits, praktische Übungen mit fünfzig bis hundert Stu¬
denten ans einmal abzuhalten. Man mache doch die vielen Lehrkräfte, die
ans der Universität unthätig oder nur halb beschäftigt herumlaufen, die Privat¬
dozenten und außerordentlichen Professoren, für den Unterricht nutzbar! Frei¬
lich muß man dann zunächst das Monopol des Examens ausheben. Man
würde an manchen Hochschulen eine erstaunliche Wirkung sehen, wenn plötzlich
die Studenten von dem Zwange befreit würden, aus Rücksicht auf die Staats¬
prüfung in Scharen zu den Vorlesungen ehrwürdiger akademischer Ruinen zu
laufen; es würde von deu Schülern unbewußt eine natürliche Auslese gehalten
werden, die ans die Lehrer den belebendsten Einfluß ausüben müßte. Und ich
denke, unter gesunden Verhältnissen muß es so sein, daß vom Schüler eine
Rückwirkung auf den Lehrer ausgeht, indem nicht nur der Lehrer den Schüler,
sondern auch der Schüler den Lehrer erzieht. Davon aber kann bei der oli-
garchischen Verfassung unsrer Hochschulen keine Rede sei".

Zum Anschluß an das praktische Leben gehört aber auch, daß der Zu¬
tritt zur akademischen Lehrthätigkeit nicht tüchtigen Leuten erschwert und jedem
jungen Streber offen gelassen wird, der sich habilitirt, weil er nicht weiß,
wozu er eigentlich ans der Welt ist. Zu jeder Lehrthätigkeit gehört mehr als


andern fortpflanzt, und der gemäß man seine wissenschaftlichen Ansichten ein¬
zurichten hat, wenn man an dieser Hochschule durchs Examen kommen will.
Daß die Studenten vor einer solchen Wissenschaft nicht sonderlich viel Achtung
haben, daß sie sich mit Lehren, die ihnen aufgezwungen werden, so spät als
möglich einlassen, wer wollte ihnen das gar zu sehr verdenken? Will man
sie aus dieser unwürdigen Lage erlösen, so genügt es aber nicht, sie der wissen-
schaftlichen Tyrannei zu entziehen, die die Professoren dnrch das Examen über
sie ausüben. Man muß weiter versuchen, ihnen wieder Liebe zu ihrem Stu¬
dium einzuflößen, und das geht nur, wenn man sich entschließt, die Praxis
unsrer Hochschulen von Grund auf umzuformen, sowohl was deu Lehrstoff,
wie was die Lehrmethode angeht. Beide, Stoff und Methode, müssen sich
von dem dürren Sandacker altersgrauer Theorie ab- und dem lebendigen Leben
zuwenden. Welchen Beruf der Student ausüben soll, das muß den Lehrstoff
bestimme», wie er ihn ausüben soll, die Methode. Das ist eine so einfache,
so selbstverständliche Wahrheit, daß man sie nur im Lande des gründlichen
Denkens hat verfehlen können. Auf unsern Hochschulen herrscht noch viel zu-
sehr der Kollegienvvrtrag, der den Professoren das Lehren so beqneiu und den
Studenten das Einpauker der Examenweisheit so leicht macht. Gewisse all¬
gemeine Gegenstände müssen ja im allgemeinen Vortrage behandelt werden.
Ungereimt aber ist es, beispielsweise die Grammatik irgend einer Sprache in
einem in Kapitel und Paragraphen eingekeilten Kolleg fünfzig bis hundert Zu¬
hörern auf einmal vorzulesen. Wozu hat denn Edison den Phonographen
erfunden? Der macht das genau so gut wie der gelehrteste Professor. Ebenso
ungereimt ist es andrerseits, praktische Übungen mit fünfzig bis hundert Stu¬
denten ans einmal abzuhalten. Man mache doch die vielen Lehrkräfte, die
ans der Universität unthätig oder nur halb beschäftigt herumlaufen, die Privat¬
dozenten und außerordentlichen Professoren, für den Unterricht nutzbar! Frei¬
lich muß man dann zunächst das Monopol des Examens ausheben. Man
würde an manchen Hochschulen eine erstaunliche Wirkung sehen, wenn plötzlich
die Studenten von dem Zwange befreit würden, aus Rücksicht auf die Staats¬
prüfung in Scharen zu den Vorlesungen ehrwürdiger akademischer Ruinen zu
laufen; es würde von deu Schülern unbewußt eine natürliche Auslese gehalten
werden, die ans die Lehrer den belebendsten Einfluß ausüben müßte. Und ich
denke, unter gesunden Verhältnissen muß es so sein, daß vom Schüler eine
Rückwirkung auf den Lehrer ausgeht, indem nicht nur der Lehrer den Schüler,
sondern auch der Schüler den Lehrer erzieht. Davon aber kann bei der oli-
garchischen Verfassung unsrer Hochschulen keine Rede sei».

Zum Anschluß an das praktische Leben gehört aber auch, daß der Zu¬
tritt zur akademischen Lehrthätigkeit nicht tüchtigen Leuten erschwert und jedem
jungen Streber offen gelassen wird, der sich habilitirt, weil er nicht weiß,
wozu er eigentlich ans der Welt ist. Zu jeder Lehrthätigkeit gehört mehr als


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[0432] andern fortpflanzt, und der gemäß man seine wissenschaftlichen Ansichten ein¬ zurichten hat, wenn man an dieser Hochschule durchs Examen kommen will. Daß die Studenten vor einer solchen Wissenschaft nicht sonderlich viel Achtung haben, daß sie sich mit Lehren, die ihnen aufgezwungen werden, so spät als möglich einlassen, wer wollte ihnen das gar zu sehr verdenken? Will man sie aus dieser unwürdigen Lage erlösen, so genügt es aber nicht, sie der wissen- schaftlichen Tyrannei zu entziehen, die die Professoren dnrch das Examen über sie ausüben. Man muß weiter versuchen, ihnen wieder Liebe zu ihrem Stu¬ dium einzuflößen, und das geht nur, wenn man sich entschließt, die Praxis unsrer Hochschulen von Grund auf umzuformen, sowohl was deu Lehrstoff, wie was die Lehrmethode angeht. Beide, Stoff und Methode, müssen sich von dem dürren Sandacker altersgrauer Theorie ab- und dem lebendigen Leben zuwenden. Welchen Beruf der Student ausüben soll, das muß den Lehrstoff bestimme», wie er ihn ausüben soll, die Methode. Das ist eine so einfache, so selbstverständliche Wahrheit, daß man sie nur im Lande des gründlichen Denkens hat verfehlen können. Auf unsern Hochschulen herrscht noch viel zu- sehr der Kollegienvvrtrag, der den Professoren das Lehren so beqneiu und den Studenten das Einpauker der Examenweisheit so leicht macht. Gewisse all¬ gemeine Gegenstände müssen ja im allgemeinen Vortrage behandelt werden. Ungereimt aber ist es, beispielsweise die Grammatik irgend einer Sprache in einem in Kapitel und Paragraphen eingekeilten Kolleg fünfzig bis hundert Zu¬ hörern auf einmal vorzulesen. Wozu hat denn Edison den Phonographen erfunden? Der macht das genau so gut wie der gelehrteste Professor. Ebenso ungereimt ist es andrerseits, praktische Übungen mit fünfzig bis hundert Stu¬ denten ans einmal abzuhalten. Man mache doch die vielen Lehrkräfte, die ans der Universität unthätig oder nur halb beschäftigt herumlaufen, die Privat¬ dozenten und außerordentlichen Professoren, für den Unterricht nutzbar! Frei¬ lich muß man dann zunächst das Monopol des Examens ausheben. Man würde an manchen Hochschulen eine erstaunliche Wirkung sehen, wenn plötzlich die Studenten von dem Zwange befreit würden, aus Rücksicht auf die Staats¬ prüfung in Scharen zu den Vorlesungen ehrwürdiger akademischer Ruinen zu laufen; es würde von deu Schülern unbewußt eine natürliche Auslese gehalten werden, die ans die Lehrer den belebendsten Einfluß ausüben müßte. Und ich denke, unter gesunden Verhältnissen muß es so sein, daß vom Schüler eine Rückwirkung auf den Lehrer ausgeht, indem nicht nur der Lehrer den Schüler, sondern auch der Schüler den Lehrer erzieht. Davon aber kann bei der oli- garchischen Verfassung unsrer Hochschulen keine Rede sei». Zum Anschluß an das praktische Leben gehört aber auch, daß der Zu¬ tritt zur akademischen Lehrthätigkeit nicht tüchtigen Leuten erschwert und jedem jungen Streber offen gelassen wird, der sich habilitirt, weil er nicht weiß, wozu er eigentlich ans der Welt ist. Zu jeder Lehrthätigkeit gehört mehr als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/432>, abgerufen am 23.11.2024.