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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Lauter Linbänder

großen Unwahrscheinlichkeit, daß sich bei der feinfühligen Dorothea kein Gefühl
dafür regt, daß Heinrich Nerheißer sie anbetet, sie leidenschaftlich begehrt, aber
sie nicht liebt, der "Begleiterscheinungen" (um im Stil der naturalistischen
Ästhetiker zu reden) entbehrt, ja unfähig ist, ohne die der Eros einer nord¬
deutschen Natur, wie es Dorothea Pfeiffenberg ist, eher Schauder erweckt, als
Anziehungskraft übt. Doch es soll Ausnahmen geben, und Dorothea mag eine
Ausnahme sein. Immer aber beschleicht uus ein Frösteln bei dem Gedanken,
wofür und zu welchem Zwecke Dorothea geopfert worden ist, und wie rasch
der Maler von der Erschütterung genesen wird, die ihm dieses Ende bereitet.
Er wird sich schwerlich sagen, daß seine eifernde, die Vergangenheit, das Wesen
und die innersten Lebensbedingungen der Geliebten mißachtende Liebe einen
Frevel eingeschlossen hat, er wird einfach beklagen, daß sich diese prächtige,
vornehme Natur nicht freier und hoher über das Philistertum hat erhebe"
können. Wildenbruch hat hier einen Konflikt enthüllt, der auch in der Ehe
zwischen den beiden würde zu Tage treten müssen, nur daß er dann in trüber
Resignation einer enttäuschten Frauenuntur ausklingen, nicht mit einem grellen
Aufschrei enden würde. Im ganzen ist es unverkennbar, daß der Dichter mit
den Modernsten nur die Wette laufen will; Schicksale und Charakter Heinrich
Verheißers siud zugleich nach der Natur und nach der gerade geltenden
Schablone. Dankenswert ist es, daß der Dichter nicht vergißt, doch auch die
andre Seite der Dinge zu zeige", und daß die Schuld an dem trostlosen Aus-
gange nicht allein auf die ahnungslosen selbstzufriednem Hamburger Normal-
menschen zurückfällt, denen Dorothea in schlimmer Stunde den Rücken gekehrt
hat, ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, dem Vater ihr Herz zu
erschließen. Leicht möglich, daß er sie gar nicht verstünde, und doch wäre
dann vieles anders, auch für Wildeubruchs Darstellung.

Wie wir auch über die Bevorzugung gerade dieser Art von Episoden in
unsrer neuesten Poesie denken mögen, wir stehen in der "Eifernden Liebe,"
trotz aller modischen naturalistischen Einflüsse, doch auf dem Boden der Wirk¬
lichkeit, eines Lebens und Schicksals, an dem wir nicht bloß Anteil nehmen
sollen, sondern anch können. Wie weit die Ansprüche der lediglich in der Luft
der kranken "Sensation" atmenden und die gesamte noch leidlich gesunde übrige
Welt ignorirenden Darstellung gehen können, zeigt eine ebenso talentvolle wie
ungesunde Dichtung, wie der einbändige Roman: Ich weiß es nicht. Die
Geschichte einer Jugend von Karl Busse (Grvßenhain und Leipzig, Baumert
und Ronge). Die Jugendgeschichte eines polnischen Knaben, des Sohnes eines
polnischen Dieners Frmieiszek, der sich mit seinem Obersten in einem posenscheu
Städtchen niedergelassen hat, wird hier mit einer Fülle prächtiger Einzelzüge
erzählt. Das Aufwachse,, des kleinen Witold neben und mit der Tochter des
Obersten, Stasia, die bei der Geburt ihre Mutter verloren hat, die Schilde¬
rung des Fronleichnamsfestes, die Schulgeschichten, die Erlebnisse Witolds in


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großen Unwahrscheinlichkeit, daß sich bei der feinfühligen Dorothea kein Gefühl
dafür regt, daß Heinrich Nerheißer sie anbetet, sie leidenschaftlich begehrt, aber
sie nicht liebt, der „Begleiterscheinungen" (um im Stil der naturalistischen
Ästhetiker zu reden) entbehrt, ja unfähig ist, ohne die der Eros einer nord¬
deutschen Natur, wie es Dorothea Pfeiffenberg ist, eher Schauder erweckt, als
Anziehungskraft übt. Doch es soll Ausnahmen geben, und Dorothea mag eine
Ausnahme sein. Immer aber beschleicht uus ein Frösteln bei dem Gedanken,
wofür und zu welchem Zwecke Dorothea geopfert worden ist, und wie rasch
der Maler von der Erschütterung genesen wird, die ihm dieses Ende bereitet.
Er wird sich schwerlich sagen, daß seine eifernde, die Vergangenheit, das Wesen
und die innersten Lebensbedingungen der Geliebten mißachtende Liebe einen
Frevel eingeschlossen hat, er wird einfach beklagen, daß sich diese prächtige,
vornehme Natur nicht freier und hoher über das Philistertum hat erhebe»
können. Wildenbruch hat hier einen Konflikt enthüllt, der auch in der Ehe
zwischen den beiden würde zu Tage treten müssen, nur daß er dann in trüber
Resignation einer enttäuschten Frauenuntur ausklingen, nicht mit einem grellen
Aufschrei enden würde. Im ganzen ist es unverkennbar, daß der Dichter mit
den Modernsten nur die Wette laufen will; Schicksale und Charakter Heinrich
Verheißers siud zugleich nach der Natur und nach der gerade geltenden
Schablone. Dankenswert ist es, daß der Dichter nicht vergißt, doch auch die
andre Seite der Dinge zu zeige», und daß die Schuld an dem trostlosen Aus-
gange nicht allein auf die ahnungslosen selbstzufriednem Hamburger Normal-
menschen zurückfällt, denen Dorothea in schlimmer Stunde den Rücken gekehrt
hat, ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, dem Vater ihr Herz zu
erschließen. Leicht möglich, daß er sie gar nicht verstünde, und doch wäre
dann vieles anders, auch für Wildeubruchs Darstellung.

Wie wir auch über die Bevorzugung gerade dieser Art von Episoden in
unsrer neuesten Poesie denken mögen, wir stehen in der „Eifernden Liebe,"
trotz aller modischen naturalistischen Einflüsse, doch auf dem Boden der Wirk¬
lichkeit, eines Lebens und Schicksals, an dem wir nicht bloß Anteil nehmen
sollen, sondern anch können. Wie weit die Ansprüche der lediglich in der Luft
der kranken „Sensation" atmenden und die gesamte noch leidlich gesunde übrige
Welt ignorirenden Darstellung gehen können, zeigt eine ebenso talentvolle wie
ungesunde Dichtung, wie der einbändige Roman: Ich weiß es nicht. Die
Geschichte einer Jugend von Karl Busse (Grvßenhain und Leipzig, Baumert
und Ronge). Die Jugendgeschichte eines polnischen Knaben, des Sohnes eines
polnischen Dieners Frmieiszek, der sich mit seinem Obersten in einem posenscheu
Städtchen niedergelassen hat, wird hier mit einer Fülle prächtiger Einzelzüge
erzählt. Das Aufwachse,, des kleinen Witold neben und mit der Tochter des
Obersten, Stasia, die bei der Geburt ihre Mutter verloren hat, die Schilde¬
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[0418] Lauter Linbänder großen Unwahrscheinlichkeit, daß sich bei der feinfühligen Dorothea kein Gefühl dafür regt, daß Heinrich Nerheißer sie anbetet, sie leidenschaftlich begehrt, aber sie nicht liebt, der „Begleiterscheinungen" (um im Stil der naturalistischen Ästhetiker zu reden) entbehrt, ja unfähig ist, ohne die der Eros einer nord¬ deutschen Natur, wie es Dorothea Pfeiffenberg ist, eher Schauder erweckt, als Anziehungskraft übt. Doch es soll Ausnahmen geben, und Dorothea mag eine Ausnahme sein. Immer aber beschleicht uus ein Frösteln bei dem Gedanken, wofür und zu welchem Zwecke Dorothea geopfert worden ist, und wie rasch der Maler von der Erschütterung genesen wird, die ihm dieses Ende bereitet. Er wird sich schwerlich sagen, daß seine eifernde, die Vergangenheit, das Wesen und die innersten Lebensbedingungen der Geliebten mißachtende Liebe einen Frevel eingeschlossen hat, er wird einfach beklagen, daß sich diese prächtige, vornehme Natur nicht freier und hoher über das Philistertum hat erhebe» können. Wildenbruch hat hier einen Konflikt enthüllt, der auch in der Ehe zwischen den beiden würde zu Tage treten müssen, nur daß er dann in trüber Resignation einer enttäuschten Frauenuntur ausklingen, nicht mit einem grellen Aufschrei enden würde. Im ganzen ist es unverkennbar, daß der Dichter mit den Modernsten nur die Wette laufen will; Schicksale und Charakter Heinrich Verheißers siud zugleich nach der Natur und nach der gerade geltenden Schablone. Dankenswert ist es, daß der Dichter nicht vergißt, doch auch die andre Seite der Dinge zu zeige», und daß die Schuld an dem trostlosen Aus- gange nicht allein auf die ahnungslosen selbstzufriednem Hamburger Normal- menschen zurückfällt, denen Dorothea in schlimmer Stunde den Rücken gekehrt hat, ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, dem Vater ihr Herz zu erschließen. Leicht möglich, daß er sie gar nicht verstünde, und doch wäre dann vieles anders, auch für Wildeubruchs Darstellung. Wie wir auch über die Bevorzugung gerade dieser Art von Episoden in unsrer neuesten Poesie denken mögen, wir stehen in der „Eifernden Liebe," trotz aller modischen naturalistischen Einflüsse, doch auf dem Boden der Wirk¬ lichkeit, eines Lebens und Schicksals, an dem wir nicht bloß Anteil nehmen sollen, sondern anch können. Wie weit die Ansprüche der lediglich in der Luft der kranken „Sensation" atmenden und die gesamte noch leidlich gesunde übrige Welt ignorirenden Darstellung gehen können, zeigt eine ebenso talentvolle wie ungesunde Dichtung, wie der einbändige Roman: Ich weiß es nicht. Die Geschichte einer Jugend von Karl Busse (Grvßenhain und Leipzig, Baumert und Ronge). Die Jugendgeschichte eines polnischen Knaben, des Sohnes eines polnischen Dieners Frmieiszek, der sich mit seinem Obersten in einem posenscheu Städtchen niedergelassen hat, wird hier mit einer Fülle prächtiger Einzelzüge erzählt. Das Aufwachse,, des kleinen Witold neben und mit der Tochter des Obersten, Stasia, die bei der Geburt ihre Mutter verloren hat, die Schilde¬ rung des Fronleichnamsfestes, die Schulgeschichten, die Erlebnisse Witolds in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/418>, abgerufen am 28.07.2024.