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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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lauter Linbäuder

"Wie schade -- wie schade!" Er trägt aus dem Landhaus der Familie
Pseiffenberg ein 5t'nnstwerk davon, wie er noch keines geschaffen hat, Dorothea
aber fühlt sich, nachdem Heinrich Perheißer hinweg ist, tief elend, fühlt, daß
durch ihr Inneres ein Wirbelsturm hingebraust ist, der "in wenigen Sekunden
das Bild der Welt, wie es jahrzehntelang in ihrer Seele gestanden hatte,
umwarf und zu oberst und unterst j8lo!j kehrte." "Wie eine wandelnde Feuer¬
flamme, die keine Stätte hat -- und so unglücklich so unglücklich" erscheint
ihr der wildgeniale Mann; so schlimm erscheint ihr bei dem Vergleich mit
ihm und der Welt, zu der er ihr das Thor einen Augenblick aufgerissen
hat, die Welt, in der Dorothea fortleben soll, daß uns aus diesem Höhepunkte
der Erzählung ein leiser Schauer vor dem Kommenden beschleicht. Verheißer
hat Dorothea Pseiffenberg nicht betrogen, hat ihr kein falsch verschönertes
Bild von sich hinterlassen, er hat allen Haß, den er gegen das Alltägliche
und gegen die Überlieferung in sich trügt, naiv herausgesprudelt; "ein Bil¬
dungsmensch!" ist ihm der höchste Ausdruck der Verachtung. Und Dorothea
kommt bezeichnenderweise auch nicht einen Augenblick ans den Gedanken, daß
der Künstler ihr Manu werden, daß sie zur Heirat mit ihm die Einwilligung
des Vaters gewinnen könne. Sie würde sich, mit einem Traum und einem
Schmerz in der Seele, wieder in ihr altes Leben finden und fügen, ja sie
nimmt sogar den ernstlichsten Anlauf dazu. Da fügt es das Verhängnis, daß
dieses Leben, alles, was ihr lieb an ihm gewesen ist, ins Wanken gerät. Ein
Herr Fritz Barkhvf, ein tadelloser Hamburger Großhändler der jüngern Ge¬
neration, dein Dorothea als lirst, r^es erscheint, und dem die "großartig
geordneten Familienverhültnisse" der Pfeiffenbergs imponiren, beginnt um sie
zu werben, und der Etatsrat begünstigt diese Werbung. "Sie konnte nein
sagen, aber wenn sie es that, dann war sie von nun an ein überflüssiges
Möbelstück in dem Hause, in dem sie bisher als Gebieterin gewaltet hatte,
eine alte Jungfer, die neben einem ärgerlichen Vater mürrischer Griesgrämigkeit
entgegenwelkte, ein Gegenstand der Verwunderung für ihren Bruder und dessen
junge Fran, ein Rätsel für alle Hausbewohner, an dem man sich eine Zeit
lang abmühte, bis man es gelangweilt beiseite liegen ließ." Sagt sie aber
ja, so sieht sie die Entwürdigung einer Ehe ohne Neigung, "Tage, Tage und
Tage voll ödem, grauem Einerlei" vor sich, und natürlich überwältigt sie
"die Erinnerung an die eine Stunde, da sie hinaufgeblickt hatte in das Land
voll Blumen und Büumeu, in die Schönheit, in die Kunst." In diesem ge¬
fährlichen Zustande trifft sie die Nachricht, daß Heinrich Verheißers Karton,
"die letzte Gothenschlacht," ans der Münchner Kunstausstellung ausgestellt
ist und dort gewaltiges Aufsehen erregt, erfaßt sie die wildeste und leiden¬
schaftlichste Sehnsucht, das Bild, auf dem, in der Gestalt der Geliebten
des Gothenkönigs Tejas, auch sie lebt, vollendet mit Augen zu sehen;
"einmal noch, bevor sie in das graue Gefängnis ging, das nun ihr künf-


lauter Linbäuder

„Wie schade — wie schade!" Er trägt aus dem Landhaus der Familie
Pseiffenberg ein 5t'nnstwerk davon, wie er noch keines geschaffen hat, Dorothea
aber fühlt sich, nachdem Heinrich Perheißer hinweg ist, tief elend, fühlt, daß
durch ihr Inneres ein Wirbelsturm hingebraust ist, der „in wenigen Sekunden
das Bild der Welt, wie es jahrzehntelang in ihrer Seele gestanden hatte,
umwarf und zu oberst und unterst j8lo!j kehrte." „Wie eine wandelnde Feuer¬
flamme, die keine Stätte hat — und so unglücklich so unglücklich" erscheint
ihr der wildgeniale Mann; so schlimm erscheint ihr bei dem Vergleich mit
ihm und der Welt, zu der er ihr das Thor einen Augenblick aufgerissen
hat, die Welt, in der Dorothea fortleben soll, daß uns aus diesem Höhepunkte
der Erzählung ein leiser Schauer vor dem Kommenden beschleicht. Verheißer
hat Dorothea Pseiffenberg nicht betrogen, hat ihr kein falsch verschönertes
Bild von sich hinterlassen, er hat allen Haß, den er gegen das Alltägliche
und gegen die Überlieferung in sich trügt, naiv herausgesprudelt; „ein Bil¬
dungsmensch!" ist ihm der höchste Ausdruck der Verachtung. Und Dorothea
kommt bezeichnenderweise auch nicht einen Augenblick ans den Gedanken, daß
der Künstler ihr Manu werden, daß sie zur Heirat mit ihm die Einwilligung
des Vaters gewinnen könne. Sie würde sich, mit einem Traum und einem
Schmerz in der Seele, wieder in ihr altes Leben finden und fügen, ja sie
nimmt sogar den ernstlichsten Anlauf dazu. Da fügt es das Verhängnis, daß
dieses Leben, alles, was ihr lieb an ihm gewesen ist, ins Wanken gerät. Ein
Herr Fritz Barkhvf, ein tadelloser Hamburger Großhändler der jüngern Ge¬
neration, dein Dorothea als lirst, r^es erscheint, und dem die „großartig
geordneten Familienverhültnisse" der Pfeiffenbergs imponiren, beginnt um sie
zu werben, und der Etatsrat begünstigt diese Werbung. „Sie konnte nein
sagen, aber wenn sie es that, dann war sie von nun an ein überflüssiges
Möbelstück in dem Hause, in dem sie bisher als Gebieterin gewaltet hatte,
eine alte Jungfer, die neben einem ärgerlichen Vater mürrischer Griesgrämigkeit
entgegenwelkte, ein Gegenstand der Verwunderung für ihren Bruder und dessen
junge Fran, ein Rätsel für alle Hausbewohner, an dem man sich eine Zeit
lang abmühte, bis man es gelangweilt beiseite liegen ließ." Sagt sie aber
ja, so sieht sie die Entwürdigung einer Ehe ohne Neigung, „Tage, Tage und
Tage voll ödem, grauem Einerlei" vor sich, und natürlich überwältigt sie
„die Erinnerung an die eine Stunde, da sie hinaufgeblickt hatte in das Land
voll Blumen und Büumeu, in die Schönheit, in die Kunst." In diesem ge¬
fährlichen Zustande trifft sie die Nachricht, daß Heinrich Verheißers Karton,
„die letzte Gothenschlacht," ans der Münchner Kunstausstellung ausgestellt
ist und dort gewaltiges Aufsehen erregt, erfaßt sie die wildeste und leiden¬
schaftlichste Sehnsucht, das Bild, auf dem, in der Gestalt der Geliebten
des Gothenkönigs Tejas, auch sie lebt, vollendet mit Augen zu sehen;
„einmal noch, bevor sie in das graue Gefängnis ging, das nun ihr künf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/416>, abgerufen am 24.11.2024.