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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Zur Wohnungsfrage

Staats gesetzt hat, und in dem sich bisher nur die Sozialdcmokrntie tummelte,
bereit, auch das noch zu zerstören, was der Liberalismus nicht niedergerissen
hatte. Darin liegt die weitgehende Bedeutung dieser Bewegung.

Hüten wir uus davor, sie mit Geringschätzung zu betrachten oder gar
sie als staatsfeindlich zu verfolgen. Wir würden der antisemitischen Bewegung
gerade, weil sie vor allem antisemitisch ist, statt einfach deutsch und sozial zu
sein, zu viel Ehre anthun, wenn wir sagen wollten, daß sie uns die Erlösung
brächte. Allein der Vorbote der Erlösung von den Irrtümern, Leiden und
Sorgen, die uns dieses so rein negative Jahrhundert des Liberalismus ge¬
bracht hat, ist sie gewiß.




Zur Wohnungsfrage

le Wohnung ist das halbe Leben. Dieser Satz wird oft laut, be¬
sonders aber dann, wenn einem Familienhaupte die Aufgabe zu¬
füllt, für sich und die Seinen ein Unterkommen zu suchen, Nur
zu vielen ist es nicht beschieden, für eine Reihe von Jahren -- an
ein oder mehrere Jahrzehnte gar nicht zu denken -- ein Haus
oder auch uur ein Stockwerk in einem Hause als sein Heim zu wissen. Zwar
entstehen, wo mau nur hinsieht, Neubauten. Aber in sehr vielen Fällen hat
ein kleines Hans und noch öfter haben mehrere kleine Häuser einem Neubau
weiche" müssen. Sind wir auch noch weit entfernt von amerikanischen Zu¬
ständen, ein gewisses turmartigcs Aussehen fällt uns doch schon an vielen
unsrer Neubauten auf. Man kann in unsern großen Städten ganze Straßen
durchwandern, ohne eines Daches ansichtig zu werden; das Dach mit seinen
freundlichen kleinen Mausardeufenstern findet keine Stätte mehr. Aber auch
auf den Dörfern macht sich der Zug der Zeit in der Gestalt der Wohnhäuser
erkennbar. Mitten in einem Dorfe von ganz ländlichem Charakter erhebt sich
eines schönen Tages ein einförmiger Kasten und ruinirt den ganzen Anblick
des Dorfes. Nach zwei, drei Jahren sind schon zehn solcher Kasten da, und
mit dem Dorfe ists vorbei.

Wo bleibt das Haus, worin eine Familie wohnt? Jedes Jahr schwinden
diese Hänser mehr. Die Bestrebungen, dem entgegenzuarbeiten, indem an der
äußersten Grenze des städtischen Weichbildes Einsamilieichäuser gebaut werden,
wie es ja in Berlin nicht ohne Erfolg geschieht, können es doch nicht verhindern,
daß alljährlich in vielen Fällen vielleicht zehn Familien, die bisher jede für


Zur Wohnungsfrage

Staats gesetzt hat, und in dem sich bisher nur die Sozialdcmokrntie tummelte,
bereit, auch das noch zu zerstören, was der Liberalismus nicht niedergerissen
hatte. Darin liegt die weitgehende Bedeutung dieser Bewegung.

Hüten wir uus davor, sie mit Geringschätzung zu betrachten oder gar
sie als staatsfeindlich zu verfolgen. Wir würden der antisemitischen Bewegung
gerade, weil sie vor allem antisemitisch ist, statt einfach deutsch und sozial zu
sein, zu viel Ehre anthun, wenn wir sagen wollten, daß sie uns die Erlösung
brächte. Allein der Vorbote der Erlösung von den Irrtümern, Leiden und
Sorgen, die uns dieses so rein negative Jahrhundert des Liberalismus ge¬
bracht hat, ist sie gewiß.




Zur Wohnungsfrage

le Wohnung ist das halbe Leben. Dieser Satz wird oft laut, be¬
sonders aber dann, wenn einem Familienhaupte die Aufgabe zu¬
füllt, für sich und die Seinen ein Unterkommen zu suchen, Nur
zu vielen ist es nicht beschieden, für eine Reihe von Jahren — an
ein oder mehrere Jahrzehnte gar nicht zu denken — ein Haus
oder auch uur ein Stockwerk in einem Hause als sein Heim zu wissen. Zwar
entstehen, wo mau nur hinsieht, Neubauten. Aber in sehr vielen Fällen hat
ein kleines Hans und noch öfter haben mehrere kleine Häuser einem Neubau
weiche» müssen. Sind wir auch noch weit entfernt von amerikanischen Zu¬
ständen, ein gewisses turmartigcs Aussehen fällt uns doch schon an vielen
unsrer Neubauten auf. Man kann in unsern großen Städten ganze Straßen
durchwandern, ohne eines Daches ansichtig zu werden; das Dach mit seinen
freundlichen kleinen Mausardeufenstern findet keine Stätte mehr. Aber auch
auf den Dörfern macht sich der Zug der Zeit in der Gestalt der Wohnhäuser
erkennbar. Mitten in einem Dorfe von ganz ländlichem Charakter erhebt sich
eines schönen Tages ein einförmiger Kasten und ruinirt den ganzen Anblick
des Dorfes. Nach zwei, drei Jahren sind schon zehn solcher Kasten da, und
mit dem Dorfe ists vorbei.

Wo bleibt das Haus, worin eine Familie wohnt? Jedes Jahr schwinden
diese Hänser mehr. Die Bestrebungen, dem entgegenzuarbeiten, indem an der
äußersten Grenze des städtischen Weichbildes Einsamilieichäuser gebaut werden,
wie es ja in Berlin nicht ohne Erfolg geschieht, können es doch nicht verhindern,
daß alljährlich in vielen Fällen vielleicht zehn Familien, die bisher jede für


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[0398] Zur Wohnungsfrage Staats gesetzt hat, und in dem sich bisher nur die Sozialdcmokrntie tummelte, bereit, auch das noch zu zerstören, was der Liberalismus nicht niedergerissen hatte. Darin liegt die weitgehende Bedeutung dieser Bewegung. Hüten wir uus davor, sie mit Geringschätzung zu betrachten oder gar sie als staatsfeindlich zu verfolgen. Wir würden der antisemitischen Bewegung gerade, weil sie vor allem antisemitisch ist, statt einfach deutsch und sozial zu sein, zu viel Ehre anthun, wenn wir sagen wollten, daß sie uns die Erlösung brächte. Allein der Vorbote der Erlösung von den Irrtümern, Leiden und Sorgen, die uns dieses so rein negative Jahrhundert des Liberalismus ge¬ bracht hat, ist sie gewiß. Zur Wohnungsfrage le Wohnung ist das halbe Leben. Dieser Satz wird oft laut, be¬ sonders aber dann, wenn einem Familienhaupte die Aufgabe zu¬ füllt, für sich und die Seinen ein Unterkommen zu suchen, Nur zu vielen ist es nicht beschieden, für eine Reihe von Jahren — an ein oder mehrere Jahrzehnte gar nicht zu denken — ein Haus oder auch uur ein Stockwerk in einem Hause als sein Heim zu wissen. Zwar entstehen, wo mau nur hinsieht, Neubauten. Aber in sehr vielen Fällen hat ein kleines Hans und noch öfter haben mehrere kleine Häuser einem Neubau weiche» müssen. Sind wir auch noch weit entfernt von amerikanischen Zu¬ ständen, ein gewisses turmartigcs Aussehen fällt uns doch schon an vielen unsrer Neubauten auf. Man kann in unsern großen Städten ganze Straßen durchwandern, ohne eines Daches ansichtig zu werden; das Dach mit seinen freundlichen kleinen Mausardeufenstern findet keine Stätte mehr. Aber auch auf den Dörfern macht sich der Zug der Zeit in der Gestalt der Wohnhäuser erkennbar. Mitten in einem Dorfe von ganz ländlichem Charakter erhebt sich eines schönen Tages ein einförmiger Kasten und ruinirt den ganzen Anblick des Dorfes. Nach zwei, drei Jahren sind schon zehn solcher Kasten da, und mit dem Dorfe ists vorbei. Wo bleibt das Haus, worin eine Familie wohnt? Jedes Jahr schwinden diese Hänser mehr. Die Bestrebungen, dem entgegenzuarbeiten, indem an der äußersten Grenze des städtischen Weichbildes Einsamilieichäuser gebaut werden, wie es ja in Berlin nicht ohne Erfolg geschieht, können es doch nicht verhindern, daß alljährlich in vielen Fällen vielleicht zehn Familien, die bisher jede für

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/398>, abgerufen am 27.11.2024.