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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Nimmt man hinzu, dos; es in Stadt und Land diesen Bevölkerungsklassen
gegenüber in weit überwiegender Zahl Juden waren, die sie bewunderten und
ausbeuteten, so haben wir damit Entstehungsgeschichte und Erklärung, Berech¬
tigung und Programm der dentschsvzialen Partei. Das; diese Partei nur eine
Partei des Übergangs, des Werdens ist, erscheint anch uns, sowie den Sozial¬
demokratin!, unzweifelhaft. Es muß und wird bei ihr an Stelle der persön¬
lichen Gehässigkeit des Antisemitismus prinzipieller Sozialismus treten.

Welcher Art aber dieser Sozialismus sein wird, das hängt wesentlich von
der Stellung ab, die die Krone und die Regierungen, die sogenannten bürger¬
lichen Parteien, kurz alle die zur deutschsozialen Partei einnehmen, die die
"Klinke der Gesetzgebung" in den Händen haben, das hängt von dem Maße
der wirtschaftlichen und sozialen Fürsorge, die wir dem versinkendem Mittel¬
stande und dem sich aus dem bessern Arbeiterstande hervorarbeitcnden neuen
Mittelstande angedeihen lassen.

Eine starke Stellung könnte der bestehende Staat gegenüber den Umsturz-
bestrcbnngen erlangen, wenn er, gestützt auf den kerndeutschen, innerlich ge¬
sunden und vaterlanostrenen Mittelstand, die Sache eines konservativen und
monarchischen Sozialismus zu der seinigen machte. Hier im Mittelstande, in
seinem Triebe zu genossenschaftlicher Organisation, zu korporativen Znsammen-
schlusse liegen die starken Wurzeln der Kraft unsers Staatswesens überhaupt.
Was Thomas Carlyle über den Radikalismus sagte (Schulze-Gävernitz, Zum
sozialen Frieden S. t56), das gilt auch vou unserm Liberalismus, der radikal
aufgeräumt hatte mit den sozialen Einrichtungen der frühern Jahrhunderte.
"Der Radikalismus hinterläßt im Laufe seiner Entwicklung ein Nettoresultat
von Null und Leere für eine neue Ordnung; ja er ist so negativ, daß es
nicht sein Verdienst ist, wenn unter seiner Herrschaft die Gesellschaft noch fort¬
besteht. Vielmehr beruht dies allein darauf, daß ans vergangnen Zeiten noch
positive Elemente überliefert sind, oaß insbesondre in abgelegner" Kreisen der Ge¬
sellschaft sdas sind die "politisch rückständigsten" Vevölkernngsschichten im Sinne
der Sozialdemokratin noch alter Glaube nicht geschwunden, noch alte Formen
nicht zur Lüge geworden sind, daß vielmehr "och eine Reihe sozialer In¬
stitutionen die Verehrung der Mehrzahl besitzen." Und, so fügen wir, den
Cnrlyleschen Gedankengang zu Ende denkend, hinzu, diese von der Superklug-
heit revolutionärer Thoren mißachteten "positiven Elemente" sind es dann
schließlich, aus denen sich fruchtbare, positive Gedanken für eine Neuordnung
an Stelle der zertrümmerten alte" Ordnung langsam "ut mühsam, aber darum
nur um so sicherer hervorringeu, und die den festen Kern bilden, um den sich
die neue organisirte Gemeinschaft, genannt Staat, krystallisirt.

Wir stehen jetzt im Anfange dieser Entwicklung. Die deutschsoziale Be¬
wegung ist der erste unsichere und tappende Schritt jener "positiven Elemente"
in dem fast völlig leeren Raume, den der Liberalisinus an die Stelle des


Nimmt man hinzu, dos; es in Stadt und Land diesen Bevölkerungsklassen
gegenüber in weit überwiegender Zahl Juden waren, die sie bewunderten und
ausbeuteten, so haben wir damit Entstehungsgeschichte und Erklärung, Berech¬
tigung und Programm der dentschsvzialen Partei. Das; diese Partei nur eine
Partei des Übergangs, des Werdens ist, erscheint anch uns, sowie den Sozial¬
demokratin!, unzweifelhaft. Es muß und wird bei ihr an Stelle der persön¬
lichen Gehässigkeit des Antisemitismus prinzipieller Sozialismus treten.

Welcher Art aber dieser Sozialismus sein wird, das hängt wesentlich von
der Stellung ab, die die Krone und die Regierungen, die sogenannten bürger¬
lichen Parteien, kurz alle die zur deutschsozialen Partei einnehmen, die die
„Klinke der Gesetzgebung" in den Händen haben, das hängt von dem Maße
der wirtschaftlichen und sozialen Fürsorge, die wir dem versinkendem Mittel¬
stande und dem sich aus dem bessern Arbeiterstande hervorarbeitcnden neuen
Mittelstande angedeihen lassen.

Eine starke Stellung könnte der bestehende Staat gegenüber den Umsturz-
bestrcbnngen erlangen, wenn er, gestützt auf den kerndeutschen, innerlich ge¬
sunden und vaterlanostrenen Mittelstand, die Sache eines konservativen und
monarchischen Sozialismus zu der seinigen machte. Hier im Mittelstande, in
seinem Triebe zu genossenschaftlicher Organisation, zu korporativen Znsammen-
schlusse liegen die starken Wurzeln der Kraft unsers Staatswesens überhaupt.
Was Thomas Carlyle über den Radikalismus sagte (Schulze-Gävernitz, Zum
sozialen Frieden S. t56), das gilt auch vou unserm Liberalismus, der radikal
aufgeräumt hatte mit den sozialen Einrichtungen der frühern Jahrhunderte.
„Der Radikalismus hinterläßt im Laufe seiner Entwicklung ein Nettoresultat
von Null und Leere für eine neue Ordnung; ja er ist so negativ, daß es
nicht sein Verdienst ist, wenn unter seiner Herrschaft die Gesellschaft noch fort¬
besteht. Vielmehr beruht dies allein darauf, daß ans vergangnen Zeiten noch
positive Elemente überliefert sind, oaß insbesondre in abgelegner» Kreisen der Ge¬
sellschaft sdas sind die „politisch rückständigsten" Vevölkernngsschichten im Sinne
der Sozialdemokratin noch alter Glaube nicht geschwunden, noch alte Formen
nicht zur Lüge geworden sind, daß vielmehr »och eine Reihe sozialer In¬
stitutionen die Verehrung der Mehrzahl besitzen." Und, so fügen wir, den
Cnrlyleschen Gedankengang zu Ende denkend, hinzu, diese von der Superklug-
heit revolutionärer Thoren mißachteten „positiven Elemente" sind es dann
schließlich, aus denen sich fruchtbare, positive Gedanken für eine Neuordnung
an Stelle der zertrümmerten alte» Ordnung langsam »ut mühsam, aber darum
nur um so sicherer hervorringeu, und die den festen Kern bilden, um den sich
die neue organisirte Gemeinschaft, genannt Staat, krystallisirt.

Wir stehen jetzt im Anfange dieser Entwicklung. Die deutschsoziale Be¬
wegung ist der erste unsichere und tappende Schritt jener „positiven Elemente"
in dem fast völlig leeren Raume, den der Liberalisinus an die Stelle des


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[0397] Nimmt man hinzu, dos; es in Stadt und Land diesen Bevölkerungsklassen gegenüber in weit überwiegender Zahl Juden waren, die sie bewunderten und ausbeuteten, so haben wir damit Entstehungsgeschichte und Erklärung, Berech¬ tigung und Programm der dentschsvzialen Partei. Das; diese Partei nur eine Partei des Übergangs, des Werdens ist, erscheint anch uns, sowie den Sozial¬ demokratin!, unzweifelhaft. Es muß und wird bei ihr an Stelle der persön¬ lichen Gehässigkeit des Antisemitismus prinzipieller Sozialismus treten. Welcher Art aber dieser Sozialismus sein wird, das hängt wesentlich von der Stellung ab, die die Krone und die Regierungen, die sogenannten bürger¬ lichen Parteien, kurz alle die zur deutschsozialen Partei einnehmen, die die „Klinke der Gesetzgebung" in den Händen haben, das hängt von dem Maße der wirtschaftlichen und sozialen Fürsorge, die wir dem versinkendem Mittel¬ stande und dem sich aus dem bessern Arbeiterstande hervorarbeitcnden neuen Mittelstande angedeihen lassen. Eine starke Stellung könnte der bestehende Staat gegenüber den Umsturz- bestrcbnngen erlangen, wenn er, gestützt auf den kerndeutschen, innerlich ge¬ sunden und vaterlanostrenen Mittelstand, die Sache eines konservativen und monarchischen Sozialismus zu der seinigen machte. Hier im Mittelstande, in seinem Triebe zu genossenschaftlicher Organisation, zu korporativen Znsammen- schlusse liegen die starken Wurzeln der Kraft unsers Staatswesens überhaupt. Was Thomas Carlyle über den Radikalismus sagte (Schulze-Gävernitz, Zum sozialen Frieden S. t56), das gilt auch vou unserm Liberalismus, der radikal aufgeräumt hatte mit den sozialen Einrichtungen der frühern Jahrhunderte. „Der Radikalismus hinterläßt im Laufe seiner Entwicklung ein Nettoresultat von Null und Leere für eine neue Ordnung; ja er ist so negativ, daß es nicht sein Verdienst ist, wenn unter seiner Herrschaft die Gesellschaft noch fort¬ besteht. Vielmehr beruht dies allein darauf, daß ans vergangnen Zeiten noch positive Elemente überliefert sind, oaß insbesondre in abgelegner» Kreisen der Ge¬ sellschaft sdas sind die „politisch rückständigsten" Vevölkernngsschichten im Sinne der Sozialdemokratin noch alter Glaube nicht geschwunden, noch alte Formen nicht zur Lüge geworden sind, daß vielmehr »och eine Reihe sozialer In¬ stitutionen die Verehrung der Mehrzahl besitzen." Und, so fügen wir, den Cnrlyleschen Gedankengang zu Ende denkend, hinzu, diese von der Superklug- heit revolutionärer Thoren mißachteten „positiven Elemente" sind es dann schließlich, aus denen sich fruchtbare, positive Gedanken für eine Neuordnung an Stelle der zertrümmerten alte» Ordnung langsam »ut mühsam, aber darum nur um so sicherer hervorringeu, und die den festen Kern bilden, um den sich die neue organisirte Gemeinschaft, genannt Staat, krystallisirt. Wir stehen jetzt im Anfange dieser Entwicklung. Die deutschsoziale Be¬ wegung ist der erste unsichere und tappende Schritt jener „positiven Elemente" in dem fast völlig leeren Raume, den der Liberalisinus an die Stelle des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/397>, abgerufen am 23.11.2024.