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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die deutschsoziale Bewegung

laute Klage geführt. Wir bestreikn der konservativen Partei das Recht zu
solcher Klage; keine Partei war, wie sie, befähigt und berufen, die Sache
der Vvlkserneuernng zu führen, und zu verhindern, das;' diese Sache in dema¬
gogische Bahnen geriete, und keine Partei trifft eine größere Schuld daran,
daß diese große und gute Sache einer jugendlich unerfahrenen, leidenschaftlich
unbesonnenen Partei anheimfällt und nnn in Gefahr gerät, in den unkundigen
Händen dieser Partei zu Grunde zu gehen. Aber gesetzt, die konservative
Partei hätte das größte Recht, sich zu beklagen, glaubt mau wirklich, daß,
wenn die Deutschsozialen nicht auf dem Pläne erschienen wären, die 116000
Wähler, die z. B. in Sachsen dentschsozial gewählt haben, fein artig bei der
Fahne geblieben wären und Mann für Mann konservativ gestimmt Hütten?
Wer das glaubt, der kennt unser Volk schlecht. Sozialdemokratisch hätten sie
gewählt; vielleicht nicht alle schon diesmal, aber doch ein großer Teil von
ihnen, und die andern das nächstemal. Uns scheint, die konservative Partei
und wir alle sollten den Deutschsozialen danken, daß sie dies verhindert haben,
wir sollten bei aller Würdigung der Fehler und Schwächen dieser jungen
Bewegung und ihrer in so mancher Hinsicht nicht "einwandfreien" Führer ihr
gegenüber eine gewisse wohlwollende Neutralität beobachten.

Lassen wir uns nicht beirren durch das Gezeter derer um Rickert und
Richter und durch die Weherufe der Großindustrie, des Großkapitals und des
Großgrundbesitzes! Einer Partei, die ihr Hauptaugenmerk nicht auf die So¬
zialdemokratin sondern auf die sozialen Schaden der Gegenwart richtet, die
das Mittelglied zwischen reich und arm, den Mittelstand, lebenskräftig er¬
halten und widerstandsfähiger machen will, gehört die Zukunft, mag sie in
ihren Gedanken, wie das zu erstrebende Ziel zu erreiche" sei, auch noch so
unklar sein, sich in ihrer Kampfesweise auch uoch so jugendlich und schülerhaft
geberden. Die deutsch-soziale Partei hat das richtige Ziel erkannt, sie wird
auch schließlich den richtigen Weg finden, und es ist unsre Sache, ihr hierbei
behilflich zu sein, nicht dadurch, daß wir, wie es Stöcker thut, sie von oben
herab abkanzeln, weil sie nicht so will wie wir, sondern indem wir durch ruhige
Belehrung ihr namentlich begreiflich zu machen suchen, daß es sich nicht um
einen Kampf gegen die Juden, sondern um andres, viel tiefer liegendes handelt,
und daß, wenn der grausame und unmögliche Plau eiuer Judeuvertrcibung
durchführbar wäre, wir um nichts weiter wären, wir nur Personen beseitigt,
die Sache aber nicht geändert hätten.

Die Sozialdemokratie nimmt gegenüber dem Antisemitismus seit seinen
großen Erfolgen eine andre, viel schlauere Stellung ein als die übrigen Par¬
teien. Sie glaubt oder giebt sich wenigstens den Anschein, zu glauben, daß
die Antisemiten nur die Geschäfte der Sozialdemokratie besorgten. Der Anti¬
semitismus diene dazu, die "politisch rückständigsten" Schichten der unbemit¬
telten Vevölkernngsklasfen für das Verständnis der sozialdemokratischen Ge-


Die deutschsoziale Bewegung

laute Klage geführt. Wir bestreikn der konservativen Partei das Recht zu
solcher Klage; keine Partei war, wie sie, befähigt und berufen, die Sache
der Vvlkserneuernng zu führen, und zu verhindern, das;' diese Sache in dema¬
gogische Bahnen geriete, und keine Partei trifft eine größere Schuld daran,
daß diese große und gute Sache einer jugendlich unerfahrenen, leidenschaftlich
unbesonnenen Partei anheimfällt und nnn in Gefahr gerät, in den unkundigen
Händen dieser Partei zu Grunde zu gehen. Aber gesetzt, die konservative
Partei hätte das größte Recht, sich zu beklagen, glaubt mau wirklich, daß,
wenn die Deutschsozialen nicht auf dem Pläne erschienen wären, die 116000
Wähler, die z. B. in Sachsen dentschsozial gewählt haben, fein artig bei der
Fahne geblieben wären und Mann für Mann konservativ gestimmt Hütten?
Wer das glaubt, der kennt unser Volk schlecht. Sozialdemokratisch hätten sie
gewählt; vielleicht nicht alle schon diesmal, aber doch ein großer Teil von
ihnen, und die andern das nächstemal. Uns scheint, die konservative Partei
und wir alle sollten den Deutschsozialen danken, daß sie dies verhindert haben,
wir sollten bei aller Würdigung der Fehler und Schwächen dieser jungen
Bewegung und ihrer in so mancher Hinsicht nicht „einwandfreien" Führer ihr
gegenüber eine gewisse wohlwollende Neutralität beobachten.

Lassen wir uns nicht beirren durch das Gezeter derer um Rickert und
Richter und durch die Weherufe der Großindustrie, des Großkapitals und des
Großgrundbesitzes! Einer Partei, die ihr Hauptaugenmerk nicht auf die So¬
zialdemokratin sondern auf die sozialen Schaden der Gegenwart richtet, die
das Mittelglied zwischen reich und arm, den Mittelstand, lebenskräftig er¬
halten und widerstandsfähiger machen will, gehört die Zukunft, mag sie in
ihren Gedanken, wie das zu erstrebende Ziel zu erreiche« sei, auch noch so
unklar sein, sich in ihrer Kampfesweise auch uoch so jugendlich und schülerhaft
geberden. Die deutsch-soziale Partei hat das richtige Ziel erkannt, sie wird
auch schließlich den richtigen Weg finden, und es ist unsre Sache, ihr hierbei
behilflich zu sein, nicht dadurch, daß wir, wie es Stöcker thut, sie von oben
herab abkanzeln, weil sie nicht so will wie wir, sondern indem wir durch ruhige
Belehrung ihr namentlich begreiflich zu machen suchen, daß es sich nicht um
einen Kampf gegen die Juden, sondern um andres, viel tiefer liegendes handelt,
und daß, wenn der grausame und unmögliche Plau eiuer Judeuvertrcibung
durchführbar wäre, wir um nichts weiter wären, wir nur Personen beseitigt,
die Sache aber nicht geändert hätten.

Die Sozialdemokratie nimmt gegenüber dem Antisemitismus seit seinen
großen Erfolgen eine andre, viel schlauere Stellung ein als die übrigen Par¬
teien. Sie glaubt oder giebt sich wenigstens den Anschein, zu glauben, daß
die Antisemiten nur die Geschäfte der Sozialdemokratie besorgten. Der Anti¬
semitismus diene dazu, die „politisch rückständigsten" Schichten der unbemit¬
telten Vevölkernngsklasfen für das Verständnis der sozialdemokratischen Ge-


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[0395] Die deutschsoziale Bewegung laute Klage geführt. Wir bestreikn der konservativen Partei das Recht zu solcher Klage; keine Partei war, wie sie, befähigt und berufen, die Sache der Vvlkserneuernng zu führen, und zu verhindern, das;' diese Sache in dema¬ gogische Bahnen geriete, und keine Partei trifft eine größere Schuld daran, daß diese große und gute Sache einer jugendlich unerfahrenen, leidenschaftlich unbesonnenen Partei anheimfällt und nnn in Gefahr gerät, in den unkundigen Händen dieser Partei zu Grunde zu gehen. Aber gesetzt, die konservative Partei hätte das größte Recht, sich zu beklagen, glaubt mau wirklich, daß, wenn die Deutschsozialen nicht auf dem Pläne erschienen wären, die 116000 Wähler, die z. B. in Sachsen dentschsozial gewählt haben, fein artig bei der Fahne geblieben wären und Mann für Mann konservativ gestimmt Hütten? Wer das glaubt, der kennt unser Volk schlecht. Sozialdemokratisch hätten sie gewählt; vielleicht nicht alle schon diesmal, aber doch ein großer Teil von ihnen, und die andern das nächstemal. Uns scheint, die konservative Partei und wir alle sollten den Deutschsozialen danken, daß sie dies verhindert haben, wir sollten bei aller Würdigung der Fehler und Schwächen dieser jungen Bewegung und ihrer in so mancher Hinsicht nicht „einwandfreien" Führer ihr gegenüber eine gewisse wohlwollende Neutralität beobachten. Lassen wir uns nicht beirren durch das Gezeter derer um Rickert und Richter und durch die Weherufe der Großindustrie, des Großkapitals und des Großgrundbesitzes! Einer Partei, die ihr Hauptaugenmerk nicht auf die So¬ zialdemokratin sondern auf die sozialen Schaden der Gegenwart richtet, die das Mittelglied zwischen reich und arm, den Mittelstand, lebenskräftig er¬ halten und widerstandsfähiger machen will, gehört die Zukunft, mag sie in ihren Gedanken, wie das zu erstrebende Ziel zu erreiche« sei, auch noch so unklar sein, sich in ihrer Kampfesweise auch uoch so jugendlich und schülerhaft geberden. Die deutsch-soziale Partei hat das richtige Ziel erkannt, sie wird auch schließlich den richtigen Weg finden, und es ist unsre Sache, ihr hierbei behilflich zu sein, nicht dadurch, daß wir, wie es Stöcker thut, sie von oben herab abkanzeln, weil sie nicht so will wie wir, sondern indem wir durch ruhige Belehrung ihr namentlich begreiflich zu machen suchen, daß es sich nicht um einen Kampf gegen die Juden, sondern um andres, viel tiefer liegendes handelt, und daß, wenn der grausame und unmögliche Plau eiuer Judeuvertrcibung durchführbar wäre, wir um nichts weiter wären, wir nur Personen beseitigt, die Sache aber nicht geändert hätten. Die Sozialdemokratie nimmt gegenüber dem Antisemitismus seit seinen großen Erfolgen eine andre, viel schlauere Stellung ein als die übrigen Par¬ teien. Sie glaubt oder giebt sich wenigstens den Anschein, zu glauben, daß die Antisemiten nur die Geschäfte der Sozialdemokratie besorgten. Der Anti¬ semitismus diene dazu, die „politisch rückständigsten" Schichten der unbemit¬ telten Vevölkernngsklasfen für das Verständnis der sozialdemokratischen Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/395>, abgerufen am 01.09.2024.