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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Line Nacht auf dein Brocken

Georgs erblickt. Sein alter treuer Sands MackaN ist gestorben. Endlich
bricht eine gefährliche Krankheit über ihn herein. Er hofft in einem andern
Klima zu gesunden: mit John Croßthwaite begiebt er sich nach Mexiko.
Während der Reise schreibt er die vorliegende Autobiographie und stirbt, ohne
in das Land der Freiheit den Fuß gesetzt zu haben.




(Line Nacht auf dem Brocken

s war eine unvergeßliche Schreckensnacht. Wenn es noch die
Walpurgisnacht gewesen wäre, da hätte man wenigstens denken
können, es wäre Hexerei im Spiele gewesen. Aber es war um
Johanni. Es war eine der kürzesten Nächte des Jahres. Und
doch -- wie lang ist sie mir geworden!

Wie das kam, das muß ich schon darum erzählen, daß der gallige Reise¬
onkel aus Ur. 23 und 24 der Grenzboten sieht, daß es auch noch Leute giebt,
die nicht so reisen wie sein Berliner Kommerzienrat. Bon einem süddeutschen
Kirchenfürsten, der mit seinen theologischen Anschauungen nicht recht Farbe be¬
kennen wollte, weil er es weder mit rechts noch mit links verderben mochte,
pflegte mau zu sagen, er wäre der umgekehrte Luther: "Ich kann auch anders!"
Ja, es giebt noch Leute, die auch anders können, als der blasirte Dutzend¬
reisende, der bloß "dagewesen" sein will.

Ich habe zum Beispiel dann und wann das Bedürfnis, auf hoher Berges¬
spitze einen Sonnenaufgang zu genießen. Dies Schauspiel hat ja von jeher
empfindsame Gemüter angezogen und dichterische begeistert, in die Saiten zu
greifen- Mancher macht sich freilich das Dichten bequem und besorgt es in
Schlafrock und Haufschuhen am Schreibtisch. Wenn dann ein solcher Dichter
einmal genötigt ist, eine Nacht ans der Eisenbahn zuzubringen, und bei dieser
Gelegenheit endlich einmal die Sonne aufgehen sieht, dann heißt es: "Das
nlso ist der Sonnenaufgang, den ich so oft in meinen Gedichten besungen und
beschrieben habe!" Zu denen gehöre ich nicht. Damit der geneigte Leser eine
gute Meinung von mir bekomme, will ich ihm zunächst ein paar andre, schönere
Nächte vorführen. Und wenn es nur wegen des Kontrastes wäre.

Es war im Jahre 1861 an der "Affäre." Der Leser merkt Wohl schon,
daß es in der Schweiz war. Affäre bedeutet Auffahrt, Himmelfahrt, und
wird mit möglichst langem U gesprochen, während das a so kurz ist, daß man
es vor dem r kaum hört: Ufrt. Ich war damals ein junger Geselle und


Line Nacht auf dein Brocken

Georgs erblickt. Sein alter treuer Sands MackaN ist gestorben. Endlich
bricht eine gefährliche Krankheit über ihn herein. Er hofft in einem andern
Klima zu gesunden: mit John Croßthwaite begiebt er sich nach Mexiko.
Während der Reise schreibt er die vorliegende Autobiographie und stirbt, ohne
in das Land der Freiheit den Fuß gesetzt zu haben.




(Line Nacht auf dem Brocken

s war eine unvergeßliche Schreckensnacht. Wenn es noch die
Walpurgisnacht gewesen wäre, da hätte man wenigstens denken
können, es wäre Hexerei im Spiele gewesen. Aber es war um
Johanni. Es war eine der kürzesten Nächte des Jahres. Und
doch — wie lang ist sie mir geworden!

Wie das kam, das muß ich schon darum erzählen, daß der gallige Reise¬
onkel aus Ur. 23 und 24 der Grenzboten sieht, daß es auch noch Leute giebt,
die nicht so reisen wie sein Berliner Kommerzienrat. Bon einem süddeutschen
Kirchenfürsten, der mit seinen theologischen Anschauungen nicht recht Farbe be¬
kennen wollte, weil er es weder mit rechts noch mit links verderben mochte,
pflegte mau zu sagen, er wäre der umgekehrte Luther: „Ich kann auch anders!"
Ja, es giebt noch Leute, die auch anders können, als der blasirte Dutzend¬
reisende, der bloß „dagewesen" sein will.

Ich habe zum Beispiel dann und wann das Bedürfnis, auf hoher Berges¬
spitze einen Sonnenaufgang zu genießen. Dies Schauspiel hat ja von jeher
empfindsame Gemüter angezogen und dichterische begeistert, in die Saiten zu
greifen- Mancher macht sich freilich das Dichten bequem und besorgt es in
Schlafrock und Haufschuhen am Schreibtisch. Wenn dann ein solcher Dichter
einmal genötigt ist, eine Nacht ans der Eisenbahn zuzubringen, und bei dieser
Gelegenheit endlich einmal die Sonne aufgehen sieht, dann heißt es: „Das
nlso ist der Sonnenaufgang, den ich so oft in meinen Gedichten besungen und
beschrieben habe!" Zu denen gehöre ich nicht. Damit der geneigte Leser eine
gute Meinung von mir bekomme, will ich ihm zunächst ein paar andre, schönere
Nächte vorführen. Und wenn es nur wegen des Kontrastes wäre.

Es war im Jahre 1861 an der „Affäre." Der Leser merkt Wohl schon,
daß es in der Schweiz war. Affäre bedeutet Auffahrt, Himmelfahrt, und
wird mit möglichst langem U gesprochen, während das a so kurz ist, daß man
es vor dem r kaum hört: Ufrt. Ich war damals ein junger Geselle und


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[0375] Line Nacht auf dein Brocken Georgs erblickt. Sein alter treuer Sands MackaN ist gestorben. Endlich bricht eine gefährliche Krankheit über ihn herein. Er hofft in einem andern Klima zu gesunden: mit John Croßthwaite begiebt er sich nach Mexiko. Während der Reise schreibt er die vorliegende Autobiographie und stirbt, ohne in das Land der Freiheit den Fuß gesetzt zu haben. (Line Nacht auf dem Brocken s war eine unvergeßliche Schreckensnacht. Wenn es noch die Walpurgisnacht gewesen wäre, da hätte man wenigstens denken können, es wäre Hexerei im Spiele gewesen. Aber es war um Johanni. Es war eine der kürzesten Nächte des Jahres. Und doch — wie lang ist sie mir geworden! Wie das kam, das muß ich schon darum erzählen, daß der gallige Reise¬ onkel aus Ur. 23 und 24 der Grenzboten sieht, daß es auch noch Leute giebt, die nicht so reisen wie sein Berliner Kommerzienrat. Bon einem süddeutschen Kirchenfürsten, der mit seinen theologischen Anschauungen nicht recht Farbe be¬ kennen wollte, weil er es weder mit rechts noch mit links verderben mochte, pflegte mau zu sagen, er wäre der umgekehrte Luther: „Ich kann auch anders!" Ja, es giebt noch Leute, die auch anders können, als der blasirte Dutzend¬ reisende, der bloß „dagewesen" sein will. Ich habe zum Beispiel dann und wann das Bedürfnis, auf hoher Berges¬ spitze einen Sonnenaufgang zu genießen. Dies Schauspiel hat ja von jeher empfindsame Gemüter angezogen und dichterische begeistert, in die Saiten zu greifen- Mancher macht sich freilich das Dichten bequem und besorgt es in Schlafrock und Haufschuhen am Schreibtisch. Wenn dann ein solcher Dichter einmal genötigt ist, eine Nacht ans der Eisenbahn zuzubringen, und bei dieser Gelegenheit endlich einmal die Sonne aufgehen sieht, dann heißt es: „Das nlso ist der Sonnenaufgang, den ich so oft in meinen Gedichten besungen und beschrieben habe!" Zu denen gehöre ich nicht. Damit der geneigte Leser eine gute Meinung von mir bekomme, will ich ihm zunächst ein paar andre, schönere Nächte vorführen. Und wenn es nur wegen des Kontrastes wäre. Es war im Jahre 1861 an der „Affäre." Der Leser merkt Wohl schon, daß es in der Schweiz war. Affäre bedeutet Auffahrt, Himmelfahrt, und wird mit möglichst langem U gesprochen, während das a so kurz ist, daß man es vor dem r kaum hört: Ufrt. Ich war damals ein junger Geselle und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/375>, abgerufen am 27.11.2024.