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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Die ätherische Volksmoral im Drama

liebe machen sich solcher UnVersöhnlichkeit schuldig,. Es soll nicht geleugnet
werden, daß die Kirche so manchen zur Rene und Versöhnung bekehrt, und
daß Christi Beispiel manches rachsüchtige Herz bezwingt, aber das sind einzelne
Vorgänge, die auf den Lauf der Welt, der immer auch durch gewaltige Wogen
von Haß und Rachsucht mit bestimmt wird, keinen Einfluß üben.

Übrigens lassen die griechischen Tragiker die Rache ihrer Helden weder
ins maßlose ausschreiten noch unaustüudig werden, sie geben sogar dem Zweifel
Raum, ob Rache überhaupt erlaubt sei. Des Aischylvs Elektra (in den
Grabesspenderinnen) weiß nicht, was sie an des Vaters Gruft bete" soll.
Der Chor rät ihr, sie möge zunächst des Bruders in Liebe gedenken und
dann der Schuldigen:


Sag ihnen, kommen werd ein Gott einst oder Mensch --

Elektra

Meinst du, der sie richten, oder der ihn rächen wird?

Chorführerin

Du sagst es einfach: der den Mord mit Mord vergilt!

Elektra

Doch ist es fromm mich, von den Göttern das zu flehn?

C h v rführeri n

Wie nicht, daß seine Schuld dem Feind sich rächt.


Nicht zur Sättigung ihres persönlichen Rachegefühls also soll Elektra die Be¬
strafung der Schuldigen verlangen, sondern damit der verletzten Gerechtigkeit
Genüge geschehe. Am Schluß ihres Gebets zur Seele des Vaters spricht sie:


Mir aber gieb du, daß ich tugendhafter sei
Denn meine Mutter, reinen Wandels, reiner Hand!
Für uns gebetet hab ich dies; den Feinden laß
Erscheinen, sag ich, einen, der dich, Bater, rächt,
Auf daß die Mörder wieder morde ihr Gericht.
So betend Schurz' ich in den frommen Segensspruch
Den Flucheswürdgeu ein des Fluches Gegenspruch.
Du aber send uns alles Heil empor, mit dir
Die Götter und die Erd und Dike Siegerin.

Von Herakles heißt es in den Trachinierinnen:


Zeus gab der Sklaverei ihn preis, zur Strafe, daß
Von allen Menschen diesen öden Jphitos^ er durch List
Getötet. Denn wenn offne Rache er geübt,
So hätte Zeus ihm den gerechten Sieg verziehn.

Im Aias des Sophokles weist Athene auf den durch Wahnsinn geblendeten
Helden und spricht zu Odysseus:


siehst du, wie viel Götterkraft vermag?
Wo fand man einen zweiten, einsichtsvoll wie er,
Und tüchtig, auszuführen, was die Zeit gebot?

Die ätherische Volksmoral im Drama

liebe machen sich solcher UnVersöhnlichkeit schuldig,. Es soll nicht geleugnet
werden, daß die Kirche so manchen zur Rene und Versöhnung bekehrt, und
daß Christi Beispiel manches rachsüchtige Herz bezwingt, aber das sind einzelne
Vorgänge, die auf den Lauf der Welt, der immer auch durch gewaltige Wogen
von Haß und Rachsucht mit bestimmt wird, keinen Einfluß üben.

Übrigens lassen die griechischen Tragiker die Rache ihrer Helden weder
ins maßlose ausschreiten noch unaustüudig werden, sie geben sogar dem Zweifel
Raum, ob Rache überhaupt erlaubt sei. Des Aischylvs Elektra (in den
Grabesspenderinnen) weiß nicht, was sie an des Vaters Gruft bete» soll.
Der Chor rät ihr, sie möge zunächst des Bruders in Liebe gedenken und
dann der Schuldigen:


Sag ihnen, kommen werd ein Gott einst oder Mensch —

Elektra

Meinst du, der sie richten, oder der ihn rächen wird?

Chorführerin

Du sagst es einfach: der den Mord mit Mord vergilt!

Elektra

Doch ist es fromm mich, von den Göttern das zu flehn?

C h v rführeri n

Wie nicht, daß seine Schuld dem Feind sich rächt.


Nicht zur Sättigung ihres persönlichen Rachegefühls also soll Elektra die Be¬
strafung der Schuldigen verlangen, sondern damit der verletzten Gerechtigkeit
Genüge geschehe. Am Schluß ihres Gebets zur Seele des Vaters spricht sie:


Mir aber gieb du, daß ich tugendhafter sei
Denn meine Mutter, reinen Wandels, reiner Hand!
Für uns gebetet hab ich dies; den Feinden laß
Erscheinen, sag ich, einen, der dich, Bater, rächt,
Auf daß die Mörder wieder morde ihr Gericht.
So betend Schurz' ich in den frommen Segensspruch
Den Flucheswürdgeu ein des Fluches Gegenspruch.
Du aber send uns alles Heil empor, mit dir
Die Götter und die Erd und Dike Siegerin.

Von Herakles heißt es in den Trachinierinnen:


Zeus gab der Sklaverei ihn preis, zur Strafe, daß
Von allen Menschen diesen öden Jphitos^ er durch List
Getötet. Denn wenn offne Rache er geübt,
So hätte Zeus ihm den gerechten Sieg verziehn.

Im Aias des Sophokles weist Athene auf den durch Wahnsinn geblendeten
Helden und spricht zu Odysseus:


siehst du, wie viel Götterkraft vermag?
Wo fand man einen zweiten, einsichtsvoll wie er,
Und tüchtig, auszuführen, was die Zeit gebot?

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[0352] Die ätherische Volksmoral im Drama liebe machen sich solcher UnVersöhnlichkeit schuldig,. Es soll nicht geleugnet werden, daß die Kirche so manchen zur Rene und Versöhnung bekehrt, und daß Christi Beispiel manches rachsüchtige Herz bezwingt, aber das sind einzelne Vorgänge, die auf den Lauf der Welt, der immer auch durch gewaltige Wogen von Haß und Rachsucht mit bestimmt wird, keinen Einfluß üben. Übrigens lassen die griechischen Tragiker die Rache ihrer Helden weder ins maßlose ausschreiten noch unaustüudig werden, sie geben sogar dem Zweifel Raum, ob Rache überhaupt erlaubt sei. Des Aischylvs Elektra (in den Grabesspenderinnen) weiß nicht, was sie an des Vaters Gruft bete» soll. Der Chor rät ihr, sie möge zunächst des Bruders in Liebe gedenken und dann der Schuldigen: Sag ihnen, kommen werd ein Gott einst oder Mensch — Elektra Meinst du, der sie richten, oder der ihn rächen wird? Chorführerin Du sagst es einfach: der den Mord mit Mord vergilt! Elektra Doch ist es fromm mich, von den Göttern das zu flehn? C h v rführeri n Wie nicht, daß seine Schuld dem Feind sich rächt. Nicht zur Sättigung ihres persönlichen Rachegefühls also soll Elektra die Be¬ strafung der Schuldigen verlangen, sondern damit der verletzten Gerechtigkeit Genüge geschehe. Am Schluß ihres Gebets zur Seele des Vaters spricht sie: Mir aber gieb du, daß ich tugendhafter sei Denn meine Mutter, reinen Wandels, reiner Hand! Für uns gebetet hab ich dies; den Feinden laß Erscheinen, sag ich, einen, der dich, Bater, rächt, Auf daß die Mörder wieder morde ihr Gericht. So betend Schurz' ich in den frommen Segensspruch Den Flucheswürdgeu ein des Fluches Gegenspruch. Du aber send uns alles Heil empor, mit dir Die Götter und die Erd und Dike Siegerin. Von Herakles heißt es in den Trachinierinnen: Zeus gab der Sklaverei ihn preis, zur Strafe, daß Von allen Menschen diesen öden Jphitos^ er durch List Getötet. Denn wenn offne Rache er geübt, So hätte Zeus ihm den gerechten Sieg verziehn. Im Aias des Sophokles weist Athene auf den durch Wahnsinn geblendeten Helden und spricht zu Odysseus: siehst du, wie viel Götterkraft vermag? Wo fand man einen zweiten, einsichtsvoll wie er, Und tüchtig, auszuführen, was die Zeit gebot?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/352>, abgerufen am 27.11.2024.