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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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bewnßtsein weit weniger entwickelt und wo es nicht stark genug ist, Erschei¬
nungen, wie die jüngst im Reichstage erlebten, zu verhüte", wird bei einem
Zustande dieser Art nicht auf die Länge der Zeit bestehen können.

Nun wird freilich niemand daran denken, aus dem blauen Himmel heraus
eine Änderung des Wahlrechts zu versuchen. Die Massen und noch mehr ihre
demagogischen Führer siud sich vollkommen bewußt, welche Macht mit diesem
Wahlrecht in ihre Hände gelegt ist. Eine Abänderung würde einen Kampf
auf Leben und Tod entzünden. Aber kraft einer aus der innersten Natur der
Verhältnisse sich ergebenden Notwendigkeit wird es doch früher oder später zu
einem solchen Kampfe kommen. Gebe Gott, daß dann die staatserhaltenden
Kräfte noch stark genug siud, ihn zu bestehen.




Die ätherische Volksmoral im Drama
4

ach dem bis jetzt angeführten dürfte es schwer halten, ans den
Stücken der großen Tragiker und, abgesehen von einem einzigen
später zu besprechenden Umstände, selbst aus denen des Aristo-
phanes, einen Mvralgrnndsatz herauszufinden, der einem edeln
Charakter unsrer Zeit nicht anstünde. Aber haften nicht dem
griechischen Nolkscharakter weltbekannte häßliche Schandflecke an?

Der strenge Christ wird einen solchen schon in dem Mangel der Feindes¬
liebe bei den Helden der Alten finden. "Ein Achill oder Odhsseus -- schreibt
Wundt in seiner Ethik --, in denen die Zeit, die zuerst den homerischen Ge¬
dichten lauschte, Borbilder männlicher Tugend sah, wie anders erscheinen sie
dem stoischen Philosophen oder gar dem brahmnnischen Weisen und frommen
Christen, denen Zorn und Rache, List und Betrug, selbst wenn diese in dem
Dienste rühmlicher Zwecke zu stehen scheinen, als verabscheuuugswerte Ver¬
brechen gelten!" Den schlauen Odysseus haben wir schon abgethan. Was
aber die Rache anlangt, ist etwa der moderne Zweikampf etwas andres als
Rache? Und der Beleidigte, der ihn ablehnt, darf in dein Staate, der sich heute
vor alleu der sittliche und christliche zu sein rühmt, dem Stande nicht angehören,
den dieser Staat als seinen vollkommensten und würdigsten Repräsentanten
ehrt. Auch der österreichische Kriegsminister hat kürzlich den Reserveoffizieren
verboten, sich an katholischen Stndentenverln'ndungen zu beteiligen, weil diese


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bewnßtsein weit weniger entwickelt und wo es nicht stark genug ist, Erschei¬
nungen, wie die jüngst im Reichstage erlebten, zu verhüte», wird bei einem
Zustande dieser Art nicht auf die Länge der Zeit bestehen können.

Nun wird freilich niemand daran denken, aus dem blauen Himmel heraus
eine Änderung des Wahlrechts zu versuchen. Die Massen und noch mehr ihre
demagogischen Führer siud sich vollkommen bewußt, welche Macht mit diesem
Wahlrecht in ihre Hände gelegt ist. Eine Abänderung würde einen Kampf
auf Leben und Tod entzünden. Aber kraft einer aus der innersten Natur der
Verhältnisse sich ergebenden Notwendigkeit wird es doch früher oder später zu
einem solchen Kampfe kommen. Gebe Gott, daß dann die staatserhaltenden
Kräfte noch stark genug siud, ihn zu bestehen.




Die ätherische Volksmoral im Drama
4

ach dem bis jetzt angeführten dürfte es schwer halten, ans den
Stücken der großen Tragiker und, abgesehen von einem einzigen
später zu besprechenden Umstände, selbst aus denen des Aristo-
phanes, einen Mvralgrnndsatz herauszufinden, der einem edeln
Charakter unsrer Zeit nicht anstünde. Aber haften nicht dem
griechischen Nolkscharakter weltbekannte häßliche Schandflecke an?

Der strenge Christ wird einen solchen schon in dem Mangel der Feindes¬
liebe bei den Helden der Alten finden. „Ein Achill oder Odhsseus — schreibt
Wundt in seiner Ethik —, in denen die Zeit, die zuerst den homerischen Ge¬
dichten lauschte, Borbilder männlicher Tugend sah, wie anders erscheinen sie
dem stoischen Philosophen oder gar dem brahmnnischen Weisen und frommen
Christen, denen Zorn und Rache, List und Betrug, selbst wenn diese in dem
Dienste rühmlicher Zwecke zu stehen scheinen, als verabscheuuugswerte Ver¬
brechen gelten!" Den schlauen Odysseus haben wir schon abgethan. Was
aber die Rache anlangt, ist etwa der moderne Zweikampf etwas andres als
Rache? Und der Beleidigte, der ihn ablehnt, darf in dein Staate, der sich heute
vor alleu der sittliche und christliche zu sein rühmt, dem Stande nicht angehören,
den dieser Staat als seinen vollkommensten und würdigsten Repräsentanten
ehrt. Auch der österreichische Kriegsminister hat kürzlich den Reserveoffizieren
verboten, sich an katholischen Stndentenverln'ndungen zu beteiligen, weil diese


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[0350] Die ätherische Va>lksmoral im Drcima bewnßtsein weit weniger entwickelt und wo es nicht stark genug ist, Erschei¬ nungen, wie die jüngst im Reichstage erlebten, zu verhüte», wird bei einem Zustande dieser Art nicht auf die Länge der Zeit bestehen können. Nun wird freilich niemand daran denken, aus dem blauen Himmel heraus eine Änderung des Wahlrechts zu versuchen. Die Massen und noch mehr ihre demagogischen Führer siud sich vollkommen bewußt, welche Macht mit diesem Wahlrecht in ihre Hände gelegt ist. Eine Abänderung würde einen Kampf auf Leben und Tod entzünden. Aber kraft einer aus der innersten Natur der Verhältnisse sich ergebenden Notwendigkeit wird es doch früher oder später zu einem solchen Kampfe kommen. Gebe Gott, daß dann die staatserhaltenden Kräfte noch stark genug siud, ihn zu bestehen. Die ätherische Volksmoral im Drama 4 ach dem bis jetzt angeführten dürfte es schwer halten, ans den Stücken der großen Tragiker und, abgesehen von einem einzigen später zu besprechenden Umstände, selbst aus denen des Aristo- phanes, einen Mvralgrnndsatz herauszufinden, der einem edeln Charakter unsrer Zeit nicht anstünde. Aber haften nicht dem griechischen Nolkscharakter weltbekannte häßliche Schandflecke an? Der strenge Christ wird einen solchen schon in dem Mangel der Feindes¬ liebe bei den Helden der Alten finden. „Ein Achill oder Odhsseus — schreibt Wundt in seiner Ethik —, in denen die Zeit, die zuerst den homerischen Ge¬ dichten lauschte, Borbilder männlicher Tugend sah, wie anders erscheinen sie dem stoischen Philosophen oder gar dem brahmnnischen Weisen und frommen Christen, denen Zorn und Rache, List und Betrug, selbst wenn diese in dem Dienste rühmlicher Zwecke zu stehen scheinen, als verabscheuuugswerte Ver¬ brechen gelten!" Den schlauen Odysseus haben wir schon abgethan. Was aber die Rache anlangt, ist etwa der moderne Zweikampf etwas andres als Rache? Und der Beleidigte, der ihn ablehnt, darf in dein Staate, der sich heute vor alleu der sittliche und christliche zu sein rühmt, dem Stande nicht angehören, den dieser Staat als seinen vollkommensten und würdigsten Repräsentanten ehrt. Auch der österreichische Kriegsminister hat kürzlich den Reserveoffizieren verboten, sich an katholischen Stndentenverln'ndungen zu beteiligen, weil diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/350>, abgerufen am 27.11.2024.