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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Deutsche Erziehung

Zucht. Die Darstellung des Verfassers ist auch in diesem Teüe außerordent¬
lich ansprechend. Besonders da, wo er von Charakterbildung spricht, folgt
man ihm gern, weil sein frischer, gesunder Sinn die in der Erziehung der
Eltern gerade in unsern Tagen hervortretenden Schäden scharf geißelt und
weil man überall fühlt, daß der Verfasser selbst ein Charakter ist, daß es
ihm Ernst ist um die Gedanken, die er vorbringt.

Ebenso energisch wie maßvoll bekämpft er die in der Schulerziehung be¬
merkbaren und von vielen unter mannichfachen Wehklagen vorgebrachten teil¬
weise recht traurigen Zustände. Er greift das Ding am rechten Ende an.
Die Wurzel alles Übels erkennt er in dem falschen Schulsystem: "Unsre Schulen
sind mehr Fach- als Erziehuugsschulen. ihre Lehrer mehr Fachspezialisten als
Pädagogen. Ein Hauptübelstaud, der in der Überbürdnngsfrage noch viel zu
wenig beachtet ist, ist die Überbürdung der Schüler mit Fachlehrern. Der
junge Schulamtskandidat, der von der Universität kommt, hat steh in den
allerseltensten Füllen gründlich mit Pädagogik beschäftigt. Warum sollte er
auch, wenn im Examen die pädagogische Prüfung nur eine Nebenrolle spielt
wenn er nicht zum Besuch eines pädagogischen Seminars verpflichtet ist/)
wenn selbst ein Kultusminister, der wohlgemerkt von Haus aus Jurist ist,
erklärt hat. Kinder zu behandeln werde der junge Lehrer ebenso gilt von selbst
in der Schulstube lernen. wie der Referendar die Behandlung von Verbrechern
in der Gerichtsstube?" Diese Ansicht ist noch sehr weit verbreitet, und nicht
bloß unter den höhern juristische" Beamten. Deshalb ist es freudig zu be¬
grüßen, daß der Verfasser so kräftig dafür eintritt, daß die von den Universi¬
täten kommenden jungen Lehrer pädagogisch besser vorgebildet werden. Nur
dadurch, daß unsre Lehrer wahrhaft Erzieher werden und ihre spezialistischen
Gelüste unterdrücke" lernen, kann eine Besserung eintreten. Diese Forderung
bedeutet so viel, als daß sich die Lehrer an den höhern Schulen eine gründ¬
liche Philosophische Allgemeinbilduug aneignen müssen, statt an irgend einer
Ecke des großen philologischen Wissensgebietes zu versinken. Zu dieser philo¬
sophischen Bildung gehört aber selbstverständlich auch die ästhetische.

Daß auch in diesem Punkt unsre Lehrer arg vernachlässigt sind, hat der
Versasser ebenfalls deutlich erkannt und gut herausgehoben. Da, wo er die
Forderung aufstellt, daß der erziehende Unterricht mit begeisterter Hingebung
die Interessen des Gemüts zu pflegen hat, weist er ans die Pflege der Kunst
hin als den Unterrichtsgegenstand, der am tiefsten von allen auf die Entwick¬
lung des Gemüts einzuwirken berufen sei. "Die Kunst ist einer der mäch¬
tigsten Hebel echter Herzensbildung, und die ästhetische Erziehung des Menschen
eine der höchsten Aufgaben der Pädagogik."



*) Auf den preußischen Universitäten giebt es überhaupt keine. Und ohne Übuugsschule
würden sie auch nicht viel bedeuten, se> wenig, wie die medizinischen Kollegien ohne Kliniken
S .
.^u^. . die Grmzlwten 1890, 8. Heft, S, 360 ff.
Deutsche Erziehung

Zucht. Die Darstellung des Verfassers ist auch in diesem Teüe außerordent¬
lich ansprechend. Besonders da, wo er von Charakterbildung spricht, folgt
man ihm gern, weil sein frischer, gesunder Sinn die in der Erziehung der
Eltern gerade in unsern Tagen hervortretenden Schäden scharf geißelt und
weil man überall fühlt, daß der Verfasser selbst ein Charakter ist, daß es
ihm Ernst ist um die Gedanken, die er vorbringt.

Ebenso energisch wie maßvoll bekämpft er die in der Schulerziehung be¬
merkbaren und von vielen unter mannichfachen Wehklagen vorgebrachten teil¬
weise recht traurigen Zustände. Er greift das Ding am rechten Ende an.
Die Wurzel alles Übels erkennt er in dem falschen Schulsystem: „Unsre Schulen
sind mehr Fach- als Erziehuugsschulen. ihre Lehrer mehr Fachspezialisten als
Pädagogen. Ein Hauptübelstaud, der in der Überbürdnngsfrage noch viel zu
wenig beachtet ist, ist die Überbürdung der Schüler mit Fachlehrern. Der
junge Schulamtskandidat, der von der Universität kommt, hat steh in den
allerseltensten Füllen gründlich mit Pädagogik beschäftigt. Warum sollte er
auch, wenn im Examen die pädagogische Prüfung nur eine Nebenrolle spielt
wenn er nicht zum Besuch eines pädagogischen Seminars verpflichtet ist/)
wenn selbst ein Kultusminister, der wohlgemerkt von Haus aus Jurist ist,
erklärt hat. Kinder zu behandeln werde der junge Lehrer ebenso gilt von selbst
in der Schulstube lernen. wie der Referendar die Behandlung von Verbrechern
in der Gerichtsstube?" Diese Ansicht ist noch sehr weit verbreitet, und nicht
bloß unter den höhern juristische» Beamten. Deshalb ist es freudig zu be¬
grüßen, daß der Verfasser so kräftig dafür eintritt, daß die von den Universi¬
täten kommenden jungen Lehrer pädagogisch besser vorgebildet werden. Nur
dadurch, daß unsre Lehrer wahrhaft Erzieher werden und ihre spezialistischen
Gelüste unterdrücke» lernen, kann eine Besserung eintreten. Diese Forderung
bedeutet so viel, als daß sich die Lehrer an den höhern Schulen eine gründ¬
liche Philosophische Allgemeinbilduug aneignen müssen, statt an irgend einer
Ecke des großen philologischen Wissensgebietes zu versinken. Zu dieser philo¬
sophischen Bildung gehört aber selbstverständlich auch die ästhetische.

Daß auch in diesem Punkt unsre Lehrer arg vernachlässigt sind, hat der
Versasser ebenfalls deutlich erkannt und gut herausgehoben. Da, wo er die
Forderung aufstellt, daß der erziehende Unterricht mit begeisterter Hingebung
die Interessen des Gemüts zu pflegen hat, weist er ans die Pflege der Kunst
hin als den Unterrichtsgegenstand, der am tiefsten von allen auf die Entwick¬
lung des Gemüts einzuwirken berufen sei. „Die Kunst ist einer der mäch¬
tigsten Hebel echter Herzensbildung, und die ästhetische Erziehung des Menschen
eine der höchsten Aufgaben der Pädagogik."



*) Auf den preußischen Universitäten giebt es überhaupt keine. Und ohne Übuugsschule
würden sie auch nicht viel bedeuten, se> wenig, wie die medizinischen Kollegien ohne Kliniken
S .
.^u^. . die Grmzlwten 1890, 8. Heft, S, 360 ff.
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[0035] Deutsche Erziehung Zucht. Die Darstellung des Verfassers ist auch in diesem Teüe außerordent¬ lich ansprechend. Besonders da, wo er von Charakterbildung spricht, folgt man ihm gern, weil sein frischer, gesunder Sinn die in der Erziehung der Eltern gerade in unsern Tagen hervortretenden Schäden scharf geißelt und weil man überall fühlt, daß der Verfasser selbst ein Charakter ist, daß es ihm Ernst ist um die Gedanken, die er vorbringt. Ebenso energisch wie maßvoll bekämpft er die in der Schulerziehung be¬ merkbaren und von vielen unter mannichfachen Wehklagen vorgebrachten teil¬ weise recht traurigen Zustände. Er greift das Ding am rechten Ende an. Die Wurzel alles Übels erkennt er in dem falschen Schulsystem: „Unsre Schulen sind mehr Fach- als Erziehuugsschulen. ihre Lehrer mehr Fachspezialisten als Pädagogen. Ein Hauptübelstaud, der in der Überbürdnngsfrage noch viel zu wenig beachtet ist, ist die Überbürdung der Schüler mit Fachlehrern. Der junge Schulamtskandidat, der von der Universität kommt, hat steh in den allerseltensten Füllen gründlich mit Pädagogik beschäftigt. Warum sollte er auch, wenn im Examen die pädagogische Prüfung nur eine Nebenrolle spielt wenn er nicht zum Besuch eines pädagogischen Seminars verpflichtet ist/) wenn selbst ein Kultusminister, der wohlgemerkt von Haus aus Jurist ist, erklärt hat. Kinder zu behandeln werde der junge Lehrer ebenso gilt von selbst in der Schulstube lernen. wie der Referendar die Behandlung von Verbrechern in der Gerichtsstube?" Diese Ansicht ist noch sehr weit verbreitet, und nicht bloß unter den höhern juristische» Beamten. Deshalb ist es freudig zu be¬ grüßen, daß der Verfasser so kräftig dafür eintritt, daß die von den Universi¬ täten kommenden jungen Lehrer pädagogisch besser vorgebildet werden. Nur dadurch, daß unsre Lehrer wahrhaft Erzieher werden und ihre spezialistischen Gelüste unterdrücke» lernen, kann eine Besserung eintreten. Diese Forderung bedeutet so viel, als daß sich die Lehrer an den höhern Schulen eine gründ¬ liche Philosophische Allgemeinbilduug aneignen müssen, statt an irgend einer Ecke des großen philologischen Wissensgebietes zu versinken. Zu dieser philo¬ sophischen Bildung gehört aber selbstverständlich auch die ästhetische. Daß auch in diesem Punkt unsre Lehrer arg vernachlässigt sind, hat der Versasser ebenfalls deutlich erkannt und gut herausgehoben. Da, wo er die Forderung aufstellt, daß der erziehende Unterricht mit begeisterter Hingebung die Interessen des Gemüts zu pflegen hat, weist er ans die Pflege der Kunst hin als den Unterrichtsgegenstand, der am tiefsten von allen auf die Entwick¬ lung des Gemüts einzuwirken berufen sei. „Die Kunst ist einer der mäch¬ tigsten Hebel echter Herzensbildung, und die ästhetische Erziehung des Menschen eine der höchsten Aufgaben der Pädagogik." *) Auf den preußischen Universitäten giebt es überhaupt keine. Und ohne Übuugsschule würden sie auch nicht viel bedeuten, se> wenig, wie die medizinischen Kollegien ohne Kliniken S . .^u^. . die Grmzlwten 1890, 8. Heft, S, 360 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/35>, abgerufen am 01.09.2024.