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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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wunderbare Lehre gegeben, die freilich für viele nichts überraschendes gehabt
hat- Man wird sich erinnern, daß, als es sich um das Fortbestehen des Sv-
zialistcngesetzes handelte, von manchen Seiten für die Aufhebung geltend ge¬
macht wurde: erst wenn die Sozialoemvkratie selbst wieder zu Worte komme,
könne man sie widerlegen und damit vernichten. Nun ist das Sozialistengcsctz
aufgehoben; die Sozialdemokratie hat wieder das volle Wort gehabt, und
Herr Richter hat zu ihrer Widerlegung zwei Schriften geschrieben, die in
ihrer Art nichts zu wünschen übrig lassen. Auch uoch von andrer Seite sind
ähnliche Schriften erschienen. Dann wurde im Reichstage eine viertägige
Redeschlacht geliefert, deren Ergebnis war, daß die Sozialdemokraten nicht im
geringsten zu sagen wußten, wie sie sich ihren sozialistischen Staat eigentlich
denken. Damit schien die Sozialdemokratie tot gemacht zu sein. Und was
ergaben die Wahlen? Sie ist stärker aufgetreten als je. Die daraus zu
ziehende Folge ist die: die sozialdemokratische Lehre ist nicht eine Sache des
Verstandes und der Einsicht, sondern eine Sache der Phantasie und des an¬
geregten Begehrens. Mag der sozialistische Staat ein Unding sein, das nie¬
mand verstehen kann: der Weg, der zu ihm führen soll, die Enteignung der
Besitzenden, ist doch sehr verständlich; und dieses Ziel genügt, der Partei
immer neue Anhänger zuzuführen. Schon jetzt hat die Sozialdemokratie eine
ganze Anzahl Reichstagssitze gewonnen. Noch weit größer würde diese Zahl
sein, wenn sie dem Verhältnis der für sozialdemokratische Kandidaten ab¬
gegebnen Stimmen entspräche. An vielen Orten trat die sozialdemokratische
Minderheit der Stimmen ganz nahe an die Mehrheit heran. Es bedarf dem¬
nächst nur einer geringen Verschiebung des Stimmverhältnisfes, und die Sozial¬
demokraten werden noch in weit größerer Zahl im Reichstage erscheinen.

Rechnet man hinzu, daß auch die polnischen und elsässischen Abgeordneten
keine dem deutschen Reiche freundliche Stellung einnehmen, und daß anch die
Antisemiten bei ihrer Einseitigkeit sehr unsichere Kunden sind, so ist es klar:
der deutsche Reichstag ist dergestalt von feindlichen Parteien durchsetzt, daß es
nur ein Zufall ist, wenn er Beschlüsse faßt, die zum Heile des Vaterlandes
gereichen. Bei jeder Gelegenheit können sich so verhängnisvolle Beschlüsse, wie
der um 6. Mai gefaßte, wiederholen.

Der Grund für diese Erscheinung liegt in dem allgemeinen gleichen Wahl¬
recht und der dadurch begründeten Herrschaft der Massen. Um sich hier¬
von zu überzeugen, braucht man nur den Reichstag mit dem preußischen Ab¬
geordnetenhause zu vergleichen. Mag man dieses auch uicht für eine Muster¬
versammlung halten, so weist es doch ein ganz andres Gesicht ans als der
Reichstag. Andre Länder, in denen neben aller Partcizerklüftuug doch wenigstens
das ganze Volk von einem lebendigen Nationalbewußtsein durchdrungen ist,
mögen eine solche Herrschaft der Massen ohne große Gefahr ertragen können.
Deutschland, wo zufolge der althergebrachten Zerrissenheit dieses National-


wunderbare Lehre gegeben, die freilich für viele nichts überraschendes gehabt
hat- Man wird sich erinnern, daß, als es sich um das Fortbestehen des Sv-
zialistcngesetzes handelte, von manchen Seiten für die Aufhebung geltend ge¬
macht wurde: erst wenn die Sozialoemvkratie selbst wieder zu Worte komme,
könne man sie widerlegen und damit vernichten. Nun ist das Sozialistengcsctz
aufgehoben; die Sozialdemokratie hat wieder das volle Wort gehabt, und
Herr Richter hat zu ihrer Widerlegung zwei Schriften geschrieben, die in
ihrer Art nichts zu wünschen übrig lassen. Auch uoch von andrer Seite sind
ähnliche Schriften erschienen. Dann wurde im Reichstage eine viertägige
Redeschlacht geliefert, deren Ergebnis war, daß die Sozialdemokraten nicht im
geringsten zu sagen wußten, wie sie sich ihren sozialistischen Staat eigentlich
denken. Damit schien die Sozialdemokratie tot gemacht zu sein. Und was
ergaben die Wahlen? Sie ist stärker aufgetreten als je. Die daraus zu
ziehende Folge ist die: die sozialdemokratische Lehre ist nicht eine Sache des
Verstandes und der Einsicht, sondern eine Sache der Phantasie und des an¬
geregten Begehrens. Mag der sozialistische Staat ein Unding sein, das nie¬
mand verstehen kann: der Weg, der zu ihm führen soll, die Enteignung der
Besitzenden, ist doch sehr verständlich; und dieses Ziel genügt, der Partei
immer neue Anhänger zuzuführen. Schon jetzt hat die Sozialdemokratie eine
ganze Anzahl Reichstagssitze gewonnen. Noch weit größer würde diese Zahl
sein, wenn sie dem Verhältnis der für sozialdemokratische Kandidaten ab¬
gegebnen Stimmen entspräche. An vielen Orten trat die sozialdemokratische
Minderheit der Stimmen ganz nahe an die Mehrheit heran. Es bedarf dem¬
nächst nur einer geringen Verschiebung des Stimmverhältnisfes, und die Sozial¬
demokraten werden noch in weit größerer Zahl im Reichstage erscheinen.

Rechnet man hinzu, daß auch die polnischen und elsässischen Abgeordneten
keine dem deutschen Reiche freundliche Stellung einnehmen, und daß anch die
Antisemiten bei ihrer Einseitigkeit sehr unsichere Kunden sind, so ist es klar:
der deutsche Reichstag ist dergestalt von feindlichen Parteien durchsetzt, daß es
nur ein Zufall ist, wenn er Beschlüsse faßt, die zum Heile des Vaterlandes
gereichen. Bei jeder Gelegenheit können sich so verhängnisvolle Beschlüsse, wie
der um 6. Mai gefaßte, wiederholen.

Der Grund für diese Erscheinung liegt in dem allgemeinen gleichen Wahl¬
recht und der dadurch begründeten Herrschaft der Massen. Um sich hier¬
von zu überzeugen, braucht man nur den Reichstag mit dem preußischen Ab¬
geordnetenhause zu vergleichen. Mag man dieses auch uicht für eine Muster¬
versammlung halten, so weist es doch ein ganz andres Gesicht ans als der
Reichstag. Andre Länder, in denen neben aller Partcizerklüftuug doch wenigstens
das ganze Volk von einem lebendigen Nationalbewußtsein durchdrungen ist,
mögen eine solche Herrschaft der Massen ohne große Gefahr ertragen können.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/349>, abgerufen am 23.11.2024.