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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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genommen haben, fühlen sich auch die Gewählten dauernd von ihren Wählern
abhängig. Der demagogische Geist, mit dem man die Wühler erfüllthat,
wirkt un" ans die Abgeordneten zurück. Bei jeder Abstimmung müssen diese
sich fragen: "Was werdeu meine Wähler dazu sagen? Werden sie mich dar¬
nach auch wiederwählen?" Die zahlreichen Versprechungen, die sie den
Wühlern, oft so unbedacht, gegeben haben, üben die Wirkung eines impera¬
tiven Maubads. ' '

Dies alles hat dahin geführt, daß der Reichstag im deutschen Volke bei
weitem nicht mehr das Ansehn genießt, das er früher hatte. Dem geistig ge¬
minderten Bestände entspricht auch die Art der Verhandlungen. Wie viel
Zeit wird mit nutzlosen und widcrwürtigem Gezänk hingebracht! Die Gleich-
giltigkeit der Mitglieder an den Verhandlungen spricht sich auch darin ans,
daß die Zahl der Anwesenden nur allzu oft die Beschlußfähigkeit des Reichs¬
tags bezweifeln laßt.

Daß sich die Verhültnisse, auf denen dies alles beruht, irgendwie von
innen heraus wieder zum bessern wenden konnten, daran ist nicht zu denken.
Unser Volk hat sich bereits an diese Art der Wahlen gewöhnt, und von
manchen Seiten werden sie als eine Art Sport betrieben. Auch ist nicht zu
erwarten, daß in absehbaren Zeiten die verhörten Massen einer innern Um¬
wandlung unterliegen werden.

Die freisinnige Partei hat zwar bei den jüngsten Wahlen schwere Ein¬
buße erlitten. So wie innerhalb der Fraktion selbst das noch nicht günzlich
erloschne Staatsbewußtsein einen namhaften Teil von der Fraktion absprengte,
so mag es auch vielen freisinnigen Wühlern zu stark gewesen sein, daß Herr
Richter, um seine Parteipolitik durchzuführen, die äußere Sicherheit Deutsch¬
lands aufs Spiel setzen wollte. Ein andrer Teil der freisinnigen Wähler
wird wohl zur Sozialdemokratie übergegangen sein. Denn aus welcher andern
Partei hätte diese wohl ihre vermehrten Stimmen ziehen sollen, wenn uicht
aus den Reihen des Freisinns und des Zentrums? Aber auch der Teil des
Freistuns, der sich jetzt unter dem Namen der "freisinnigen Bereinigung" ge¬
sammelt hat, bietet keine Gewähr dafür, daß er einer staatserhaltenden Rich¬
tung zugethan bleiben und nicht in den Freisinn Richterscher Schule zurück¬
fallen wird.

Das Zentrum hat zwar seine aristokratischen Elemente zum besten Teil
verloren. Aber es ist darum nicht besser und auch kaum schwächer geworden.
Die Massen, aus deren Wahl es hervorgeht, bleiben dieselben, und sie werden
nicht von der katholischen Aristokratie, sondern von dem katholischen Klerus
beherrscht, der seiner innersten Natur nach kein Freund des deutschen
Reiches ist.

Die schwerste Gefahr liegt in der Sozialdemokratie, -weil diese Gefahr
stets wächst. Auch in dieser Beziehung haben die jüngsten Wahlen eine


2le Lehren der jüngsten Vergangenheit

genommen haben, fühlen sich auch die Gewählten dauernd von ihren Wählern
abhängig. Der demagogische Geist, mit dem man die Wühler erfüllthat,
wirkt un» ans die Abgeordneten zurück. Bei jeder Abstimmung müssen diese
sich fragen: „Was werdeu meine Wähler dazu sagen? Werden sie mich dar¬
nach auch wiederwählen?" Die zahlreichen Versprechungen, die sie den
Wühlern, oft so unbedacht, gegeben haben, üben die Wirkung eines impera¬
tiven Maubads. ' '

Dies alles hat dahin geführt, daß der Reichstag im deutschen Volke bei
weitem nicht mehr das Ansehn genießt, das er früher hatte. Dem geistig ge¬
minderten Bestände entspricht auch die Art der Verhandlungen. Wie viel
Zeit wird mit nutzlosen und widcrwürtigem Gezänk hingebracht! Die Gleich-
giltigkeit der Mitglieder an den Verhandlungen spricht sich auch darin ans,
daß die Zahl der Anwesenden nur allzu oft die Beschlußfähigkeit des Reichs¬
tags bezweifeln laßt.

Daß sich die Verhültnisse, auf denen dies alles beruht, irgendwie von
innen heraus wieder zum bessern wenden konnten, daran ist nicht zu denken.
Unser Volk hat sich bereits an diese Art der Wahlen gewöhnt, und von
manchen Seiten werden sie als eine Art Sport betrieben. Auch ist nicht zu
erwarten, daß in absehbaren Zeiten die verhörten Massen einer innern Um¬
wandlung unterliegen werden.

Die freisinnige Partei hat zwar bei den jüngsten Wahlen schwere Ein¬
buße erlitten. So wie innerhalb der Fraktion selbst das noch nicht günzlich
erloschne Staatsbewußtsein einen namhaften Teil von der Fraktion absprengte,
so mag es auch vielen freisinnigen Wühlern zu stark gewesen sein, daß Herr
Richter, um seine Parteipolitik durchzuführen, die äußere Sicherheit Deutsch¬
lands aufs Spiel setzen wollte. Ein andrer Teil der freisinnigen Wähler
wird wohl zur Sozialdemokratie übergegangen sein. Denn aus welcher andern
Partei hätte diese wohl ihre vermehrten Stimmen ziehen sollen, wenn uicht
aus den Reihen des Freisinns und des Zentrums? Aber auch der Teil des
Freistuns, der sich jetzt unter dem Namen der „freisinnigen Bereinigung" ge¬
sammelt hat, bietet keine Gewähr dafür, daß er einer staatserhaltenden Rich¬
tung zugethan bleiben und nicht in den Freisinn Richterscher Schule zurück¬
fallen wird.

Das Zentrum hat zwar seine aristokratischen Elemente zum besten Teil
verloren. Aber es ist darum nicht besser und auch kaum schwächer geworden.
Die Massen, aus deren Wahl es hervorgeht, bleiben dieselben, und sie werden
nicht von der katholischen Aristokratie, sondern von dem katholischen Klerus
beherrscht, der seiner innersten Natur nach kein Freund des deutschen
Reiches ist.

Die schwerste Gefahr liegt in der Sozialdemokratie, -weil diese Gefahr
stets wächst. Auch in dieser Beziehung haben die jüngsten Wahlen eine


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[0348] 2le Lehren der jüngsten Vergangenheit genommen haben, fühlen sich auch die Gewählten dauernd von ihren Wählern abhängig. Der demagogische Geist, mit dem man die Wühler erfüllthat, wirkt un» ans die Abgeordneten zurück. Bei jeder Abstimmung müssen diese sich fragen: „Was werdeu meine Wähler dazu sagen? Werden sie mich dar¬ nach auch wiederwählen?" Die zahlreichen Versprechungen, die sie den Wühlern, oft so unbedacht, gegeben haben, üben die Wirkung eines impera¬ tiven Maubads. ' ' Dies alles hat dahin geführt, daß der Reichstag im deutschen Volke bei weitem nicht mehr das Ansehn genießt, das er früher hatte. Dem geistig ge¬ minderten Bestände entspricht auch die Art der Verhandlungen. Wie viel Zeit wird mit nutzlosen und widcrwürtigem Gezänk hingebracht! Die Gleich- giltigkeit der Mitglieder an den Verhandlungen spricht sich auch darin ans, daß die Zahl der Anwesenden nur allzu oft die Beschlußfähigkeit des Reichs¬ tags bezweifeln laßt. Daß sich die Verhültnisse, auf denen dies alles beruht, irgendwie von innen heraus wieder zum bessern wenden konnten, daran ist nicht zu denken. Unser Volk hat sich bereits an diese Art der Wahlen gewöhnt, und von manchen Seiten werden sie als eine Art Sport betrieben. Auch ist nicht zu erwarten, daß in absehbaren Zeiten die verhörten Massen einer innern Um¬ wandlung unterliegen werden. Die freisinnige Partei hat zwar bei den jüngsten Wahlen schwere Ein¬ buße erlitten. So wie innerhalb der Fraktion selbst das noch nicht günzlich erloschne Staatsbewußtsein einen namhaften Teil von der Fraktion absprengte, so mag es auch vielen freisinnigen Wühlern zu stark gewesen sein, daß Herr Richter, um seine Parteipolitik durchzuführen, die äußere Sicherheit Deutsch¬ lands aufs Spiel setzen wollte. Ein andrer Teil der freisinnigen Wähler wird wohl zur Sozialdemokratie übergegangen sein. Denn aus welcher andern Partei hätte diese wohl ihre vermehrten Stimmen ziehen sollen, wenn uicht aus den Reihen des Freisinns und des Zentrums? Aber auch der Teil des Freistuns, der sich jetzt unter dem Namen der „freisinnigen Bereinigung" ge¬ sammelt hat, bietet keine Gewähr dafür, daß er einer staatserhaltenden Rich¬ tung zugethan bleiben und nicht in den Freisinn Richterscher Schule zurück¬ fallen wird. Das Zentrum hat zwar seine aristokratischen Elemente zum besten Teil verloren. Aber es ist darum nicht besser und auch kaum schwächer geworden. Die Massen, aus deren Wahl es hervorgeht, bleiben dieselben, und sie werden nicht von der katholischen Aristokratie, sondern von dem katholischen Klerus beherrscht, der seiner innersten Natur nach kein Freund des deutschen Reiches ist. Die schwerste Gefahr liegt in der Sozialdemokratie, -weil diese Gefahr stets wächst. Auch in dieser Beziehung haben die jüngsten Wahlen eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/348>, abgerufen am 28.07.2024.