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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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ronat vor, der vom Wilddieb zum Mörder herabgleitet und nachdem er den ihn
bedrängeuden Juden erschossen hat, als Selbstmörder endet. Die Einzelheiten der
Erzählung sind vermutlich durchaus uach der Natur, einen fatal tendenziösen Bei¬
geschmack hat die rosenrote Charakteristik des jüdischen Kaufmanns Nathan Hirsch
in Szibulleu. Ist schon diese Novelle von sehr düsterm Kolorit, so stellt sich die
zweite, "Das Grundstück," vollends als ein Nachtbild aus dem Leben der lit-
tanischen Dorfbewohner dar. Diese Ebene Knrklies, die sich dreimal mit immer
schlechter" Männern verheiratet und den dritten Mann vergiftet, um das Grund-
stück zu behalten, ist von einer trostlosen Wahrheit und wird auch durch die leben¬
dige Schilderung Wicherts nicht tröstlicher. Es sind aber realistische Meisterzüge
in der Erzählung, einer davon ist das gemeinsame Mahl, das die drei Menschen,
die einander so bittres Leid nugethau haben, in der Strauchhütte auf der Heide
halten.

Ein völlig andres Gepräge als die littauischen Geschichten Wicherts tragen
die Miniaturen, fünf Novellen von Wolfgang Kirchbach (Stuttgart, I. G.
Cottasche Buchhandlung). Der Dichter dieser Miniaturen gehört zu den Talenten,
bei denen vorzugsweise die Phantasie und die Lust an einem geistreichen Spiel
entwickelt sind. Wo der Stoff seiner Novellen diesen Eigenschaften so günstig liegt,
wie in den beiden prächtigen Erzählungen "Meißner Porzellan" und "Der Ja¬
paner," von denen namentlich die erstere ein Kabinettstück geheißen zu werden
Verdient, da giebt er nicht bloß Originelles (denn originell sind auch die übrigen
Geschichten), sondern auch poetisch stimmungsvolle und lebendig überzeugende No¬
vellen. Die "Thörichten Jungfrauen" suchen einer sehr häßlichen und widrigen
modernen Unsitte, der Bekanntschaftsvermittlung durch die Zeitung, umsonst eine
poetische und humoristische Seite abzugewinnen.

Nach andrer Richtung hin waltet auch in den Novellen: Das gute Kro¬
kodil und andre Geschichten aus Italien von Ernst von Wolzogen
(Berlin, F. Fontäne und Comp.) ein Phantastisches Element. Geschichten wie "Die
versetzte Heilige," so realistisch und mit gutem Blick für Land und Leute sie im
einzelnen ausgemalt erscheinen, können doch eben nur als humoristische Phantasien
gelten. Sie entschädigen freilich dnrch gute Laune und einen gewissen tollen Über¬
mut für deu Maugel an Wirklichkeit. In der Novelle, die dem Buche den Titel
giebt, "Das gute Krokodil," waltet ein tieferes Gemütsleben, die Charakteristik des
armen kleinen verwaisten Burschen aus Capri, der von dem deutschen Obersten und
seiner Tochter zum erstenmal ein wenig menschliche Liebe und Teilnahme erfährt,
hat etwas rührendes; dem braven Herrn von Stracknitz muß man freilich wünschen,
daß seine sechzehnjährige Tochter nicht öfter Liebesproben wie die mit dem Dottore
Marajuolo anstelle. In Summn: es sind hübsche Einfälle und frische Bilder,
denen wir hier begegnen. Die tragische Schlußerzählung "Hero und Leander,"
eine Geschichte vom Gardasee, will zu dem Grundton, den Wolzogen anschlägt,
nicht recht passen. Lebendig erzählt ist sie wie die andern, aber das traurige Ende
des wackern zu viel geliebten Zugführers Meiuhold, vom ciuuudfllufzigsten öster¬
reichische" Infanterieregiment, will uns keine tragische Teilnahme einflößen. Viel¬
leicht nur, weil die unvermeidliche Jdealheldin unsrer jüugstdeutschen Novellistik,
die Kellnerin, hier wieder einmal eine Hauptrolle spielt. Jedenfalls aber rechnen
wir Ernst von Wolzogen zu den bessern jüngern Erzählern, die uns neuerdings
begegnet siud.

Ein Bändchen Thüringer Dorfgeschichten von Klara Hacker (Leipzig,
Oskar Gottwald) giebt zwei Erzählungen, "Schafheinz" und "Ans Kindern werden


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ronat vor, der vom Wilddieb zum Mörder herabgleitet und nachdem er den ihn
bedrängeuden Juden erschossen hat, als Selbstmörder endet. Die Einzelheiten der
Erzählung sind vermutlich durchaus uach der Natur, einen fatal tendenziösen Bei¬
geschmack hat die rosenrote Charakteristik des jüdischen Kaufmanns Nathan Hirsch
in Szibulleu. Ist schon diese Novelle von sehr düsterm Kolorit, so stellt sich die
zweite, „Das Grundstück," vollends als ein Nachtbild aus dem Leben der lit-
tanischen Dorfbewohner dar. Diese Ebene Knrklies, die sich dreimal mit immer
schlechter» Männern verheiratet und den dritten Mann vergiftet, um das Grund-
stück zu behalten, ist von einer trostlosen Wahrheit und wird auch durch die leben¬
dige Schilderung Wicherts nicht tröstlicher. Es sind aber realistische Meisterzüge
in der Erzählung, einer davon ist das gemeinsame Mahl, das die drei Menschen,
die einander so bittres Leid nugethau haben, in der Strauchhütte auf der Heide
halten.

Ein völlig andres Gepräge als die littauischen Geschichten Wicherts tragen
die Miniaturen, fünf Novellen von Wolfgang Kirchbach (Stuttgart, I. G.
Cottasche Buchhandlung). Der Dichter dieser Miniaturen gehört zu den Talenten,
bei denen vorzugsweise die Phantasie und die Lust an einem geistreichen Spiel
entwickelt sind. Wo der Stoff seiner Novellen diesen Eigenschaften so günstig liegt,
wie in den beiden prächtigen Erzählungen „Meißner Porzellan" und „Der Ja¬
paner," von denen namentlich die erstere ein Kabinettstück geheißen zu werden
Verdient, da giebt er nicht bloß Originelles (denn originell sind auch die übrigen
Geschichten), sondern auch poetisch stimmungsvolle und lebendig überzeugende No¬
vellen. Die „Thörichten Jungfrauen" suchen einer sehr häßlichen und widrigen
modernen Unsitte, der Bekanntschaftsvermittlung durch die Zeitung, umsonst eine
poetische und humoristische Seite abzugewinnen.

Nach andrer Richtung hin waltet auch in den Novellen: Das gute Kro¬
kodil und andre Geschichten aus Italien von Ernst von Wolzogen
(Berlin, F. Fontäne und Comp.) ein Phantastisches Element. Geschichten wie „Die
versetzte Heilige," so realistisch und mit gutem Blick für Land und Leute sie im
einzelnen ausgemalt erscheinen, können doch eben nur als humoristische Phantasien
gelten. Sie entschädigen freilich dnrch gute Laune und einen gewissen tollen Über¬
mut für deu Maugel an Wirklichkeit. In der Novelle, die dem Buche den Titel
giebt, „Das gute Krokodil," waltet ein tieferes Gemütsleben, die Charakteristik des
armen kleinen verwaisten Burschen aus Capri, der von dem deutschen Obersten und
seiner Tochter zum erstenmal ein wenig menschliche Liebe und Teilnahme erfährt,
hat etwas rührendes; dem braven Herrn von Stracknitz muß man freilich wünschen,
daß seine sechzehnjährige Tochter nicht öfter Liebesproben wie die mit dem Dottore
Marajuolo anstelle. In Summn: es sind hübsche Einfälle und frische Bilder,
denen wir hier begegnen. Die tragische Schlußerzählung „Hero und Leander,"
eine Geschichte vom Gardasee, will zu dem Grundton, den Wolzogen anschlägt,
nicht recht passen. Lebendig erzählt ist sie wie die andern, aber das traurige Ende
des wackern zu viel geliebten Zugführers Meiuhold, vom ciuuudfllufzigsten öster¬
reichische» Infanterieregiment, will uns keine tragische Teilnahme einflößen. Viel¬
leicht nur, weil die unvermeidliche Jdealheldin unsrer jüugstdeutschen Novellistik,
die Kellnerin, hier wieder einmal eine Hauptrolle spielt. Jedenfalls aber rechnen
wir Ernst von Wolzogen zu den bessern jüngern Erzählern, die uns neuerdings
begegnet siud.

Ein Bändchen Thüringer Dorfgeschichten von Klara Hacker (Leipzig,
Oskar Gottwald) giebt zwei Erzählungen, „Schafheinz" und „Ans Kindern werden


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[0343] Literatur ronat vor, der vom Wilddieb zum Mörder herabgleitet und nachdem er den ihn bedrängeuden Juden erschossen hat, als Selbstmörder endet. Die Einzelheiten der Erzählung sind vermutlich durchaus uach der Natur, einen fatal tendenziösen Bei¬ geschmack hat die rosenrote Charakteristik des jüdischen Kaufmanns Nathan Hirsch in Szibulleu. Ist schon diese Novelle von sehr düsterm Kolorit, so stellt sich die zweite, „Das Grundstück," vollends als ein Nachtbild aus dem Leben der lit- tanischen Dorfbewohner dar. Diese Ebene Knrklies, die sich dreimal mit immer schlechter» Männern verheiratet und den dritten Mann vergiftet, um das Grund- stück zu behalten, ist von einer trostlosen Wahrheit und wird auch durch die leben¬ dige Schilderung Wicherts nicht tröstlicher. Es sind aber realistische Meisterzüge in der Erzählung, einer davon ist das gemeinsame Mahl, das die drei Menschen, die einander so bittres Leid nugethau haben, in der Strauchhütte auf der Heide halten. Ein völlig andres Gepräge als die littauischen Geschichten Wicherts tragen die Miniaturen, fünf Novellen von Wolfgang Kirchbach (Stuttgart, I. G. Cottasche Buchhandlung). Der Dichter dieser Miniaturen gehört zu den Talenten, bei denen vorzugsweise die Phantasie und die Lust an einem geistreichen Spiel entwickelt sind. Wo der Stoff seiner Novellen diesen Eigenschaften so günstig liegt, wie in den beiden prächtigen Erzählungen „Meißner Porzellan" und „Der Ja¬ paner," von denen namentlich die erstere ein Kabinettstück geheißen zu werden Verdient, da giebt er nicht bloß Originelles (denn originell sind auch die übrigen Geschichten), sondern auch poetisch stimmungsvolle und lebendig überzeugende No¬ vellen. Die „Thörichten Jungfrauen" suchen einer sehr häßlichen und widrigen modernen Unsitte, der Bekanntschaftsvermittlung durch die Zeitung, umsonst eine poetische und humoristische Seite abzugewinnen. Nach andrer Richtung hin waltet auch in den Novellen: Das gute Kro¬ kodil und andre Geschichten aus Italien von Ernst von Wolzogen (Berlin, F. Fontäne und Comp.) ein Phantastisches Element. Geschichten wie „Die versetzte Heilige," so realistisch und mit gutem Blick für Land und Leute sie im einzelnen ausgemalt erscheinen, können doch eben nur als humoristische Phantasien gelten. Sie entschädigen freilich dnrch gute Laune und einen gewissen tollen Über¬ mut für deu Maugel an Wirklichkeit. In der Novelle, die dem Buche den Titel giebt, „Das gute Krokodil," waltet ein tieferes Gemütsleben, die Charakteristik des armen kleinen verwaisten Burschen aus Capri, der von dem deutschen Obersten und seiner Tochter zum erstenmal ein wenig menschliche Liebe und Teilnahme erfährt, hat etwas rührendes; dem braven Herrn von Stracknitz muß man freilich wünschen, daß seine sechzehnjährige Tochter nicht öfter Liebesproben wie die mit dem Dottore Marajuolo anstelle. In Summn: es sind hübsche Einfälle und frische Bilder, denen wir hier begegnen. Die tragische Schlußerzählung „Hero und Leander," eine Geschichte vom Gardasee, will zu dem Grundton, den Wolzogen anschlägt, nicht recht passen. Lebendig erzählt ist sie wie die andern, aber das traurige Ende des wackern zu viel geliebten Zugführers Meiuhold, vom ciuuudfllufzigsten öster¬ reichische» Infanterieregiment, will uns keine tragische Teilnahme einflößen. Viel¬ leicht nur, weil die unvermeidliche Jdealheldin unsrer jüugstdeutschen Novellistik, die Kellnerin, hier wieder einmal eine Hauptrolle spielt. Jedenfalls aber rechnen wir Ernst von Wolzogen zu den bessern jüngern Erzählern, die uns neuerdings begegnet siud. Ein Bändchen Thüringer Dorfgeschichten von Klara Hacker (Leipzig, Oskar Gottwald) giebt zwei Erzählungen, „Schafheinz" und „Ans Kindern werden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/343>, abgerufen am 23.11.2024.