Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.Unsre Bildung Teil ihres Einflußes beruht. Hätte Aspasia nicht viel Zeit darauf verwandt, Unsre Bildung Teil ihres Einflußes beruht. Hätte Aspasia nicht viel Zeit darauf verwandt, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0336" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/215426"/> <fw type="header" place="top"> Unsre Bildung</fw><lb/> <p xml:id="ID_1173" prev="#ID_1172" next="#ID_1174"> Teil ihres Einflußes beruht. Hätte Aspasia nicht viel Zeit darauf verwandt,<lb/> das Gewand in geschmackvollen Falten um die schönen Glieder zu legen,<lb/> schwerlich hätte der größte Heitere lange zu ihren Füßen gesessen. Hätte<lb/> Kleopatra nicht viel darüber gesonnen, ihre Reize stets in neuer Form er¬<lb/> scheinen zu lassen, so hätte der große Römer Mare Anton kaum ihr zuliebe<lb/> Feldherrnruhm und Verstand verloren. Und hätten außer den Musen nicht<lb/> auch die Grazien die Stirn jener Iphigenie Charlotte von Stein umspielt,<lb/> sicherlich wäre der größte deutsche Dichter nicht zehn Jahre lang ihr getreuer<lb/> Kavalier gewesen; von dem Einflüsse des Fräuleins vou Klettcnberg wenigstens<lb/> machte er sich schneller frei. Die äußere Erscheinung unsrer Frauen nun wird<lb/> durch die Mode bestimmt. In ihr ist, ausgeprägter als in andern Früchten<lb/> der Bildung, der radikale Trieb nach Einseitigkeit wirksam. Welcher Schneider<lb/> auch immer ein Kleidungsstück fertigt, ob es für eine schlanke oder eine volle<lb/> Gestalt, für eine Blonde oder eine Braune bestimmt ist, die Mode bestimmt<lb/> Form und Farbe. Nun werden Sie mir nicht zumuten, daß ich die tiefen<lb/> Gesetze ergründe, nach denen diese gewaltigste aller Kulturmächte ihre Herr¬<lb/> schaft übt; das vermag nur ein weiblicher Kopf. Aber ich werde mich be¬<lb/> mühen, Ihnen durch Vergleichung klar zu machen, wie unendlich hoch die<lb/> Mode unsre gebildeten Frauen über das weibliche Geschlecht ungebildeter Völker<lb/> erhebt. Sehn Sie, da haben die Frauen der Chinesen die häßliche Gewohn¬<lb/> heit, ihre Zehen unter die Fußsohle zu klappen und da so lauge festzubinden,<lb/> bis sie nicht mehr imstande sind, aufrecht zu gehen. Wie nun, wenn unsre<lb/> Frauen diese Sitte anch angenommen hatten, wozu wir ihnen das Recht doch<lb/> eben so wenig nehmen könnten als den Chinesinnen, wie wenn wir unsre Frauen<lb/> nicht mehr nur bildlich, sondern in Wirklichkeit auf den Händen tragen müßten!<lb/> Da verdient es doch alle Anerkennung, daß sich unsre Frauen damit begnügen,<lb/> ihre Füße in zu enge Stiefel zu pressen, deren Absatz uuter der Sohle steht<lb/> statt unter der Ferse. Freilich berauben sie sich dadurch der Möglichkeit,<lb/> frank und frei auszuschreiten, sodaß sie eine ziemlich klägliche Figur machen<lb/> neben der kräftigen Bauerndirne, die frühmorgens die Milch in die Stadt<lb/> bringt; aber in den meisten Fällen können sie sich doch ohne fremde Hilfe<lb/> fortbewegen. Also seien wir gerecht. Dann lebt da irgendwo ans einer Insel<lb/> in der Südsee ein Völkerstamm, dessen Frauen ein Vergnügen darin finden,<lb/> die Unterlippe dnrch darunter befestigte Holzstücke nach und nach so lange zu<lb/> vergrößern, bis sie einem Entenschnabel gleicht. Keine Möglichkeit für den<lb/> armen Südseeinsulaner, sein ihm ehelich verbundnes Gemahl zu küssen! Und<lb/> doch muß es ein in der weiblichen Natur tief begründeter Hang sein, einzelne<lb/> Glieder über das natürliche Maß zu vergrößern. Und wieder erkennen wir<lb/> die segensreiche Wirkung moderner Bildung darin, daß unsre Frauen ihre<lb/> Natur soweit überwinden, diesem Hang nur in der Form ihres Gewandes<lb/> nachzugeben. Sie werden sich erinnern, daß man die Vergrößerung vor<lb/> einigen Jahren auf der Rückseite anzubringen pflegte. Jetzt ist man dazu<lb/> übergegangen, die Ärmel nach oben aufzubauscheu, als säße auf beiden Schultern<lb/> ein mächtiger Hocker. Infolge dieser Verbesserung der Werke unsers Herr¬<lb/> gotts sieht es ans, als habe der Frauenarm „ die Form eines westfälischen<lb/> Schinkens, was für unsre Dichter, die einer Ästhetik auf realer Grundlage<lb/> huldigen, gewiß recht erfreulich ist. Wie ich gelesen habe, fröhnen einige<lb/> unsrer Bruderstämme dem Hang nach künstlicher Vergrößerung so weit, daß<lb/> sie ihre Weiber zu unförmlichen Fleischklumpen aufmästen, die sich gar nicht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0336]
Unsre Bildung
Teil ihres Einflußes beruht. Hätte Aspasia nicht viel Zeit darauf verwandt,
das Gewand in geschmackvollen Falten um die schönen Glieder zu legen,
schwerlich hätte der größte Heitere lange zu ihren Füßen gesessen. Hätte
Kleopatra nicht viel darüber gesonnen, ihre Reize stets in neuer Form er¬
scheinen zu lassen, so hätte der große Römer Mare Anton kaum ihr zuliebe
Feldherrnruhm und Verstand verloren. Und hätten außer den Musen nicht
auch die Grazien die Stirn jener Iphigenie Charlotte von Stein umspielt,
sicherlich wäre der größte deutsche Dichter nicht zehn Jahre lang ihr getreuer
Kavalier gewesen; von dem Einflüsse des Fräuleins vou Klettcnberg wenigstens
machte er sich schneller frei. Die äußere Erscheinung unsrer Frauen nun wird
durch die Mode bestimmt. In ihr ist, ausgeprägter als in andern Früchten
der Bildung, der radikale Trieb nach Einseitigkeit wirksam. Welcher Schneider
auch immer ein Kleidungsstück fertigt, ob es für eine schlanke oder eine volle
Gestalt, für eine Blonde oder eine Braune bestimmt ist, die Mode bestimmt
Form und Farbe. Nun werden Sie mir nicht zumuten, daß ich die tiefen
Gesetze ergründe, nach denen diese gewaltigste aller Kulturmächte ihre Herr¬
schaft übt; das vermag nur ein weiblicher Kopf. Aber ich werde mich be¬
mühen, Ihnen durch Vergleichung klar zu machen, wie unendlich hoch die
Mode unsre gebildeten Frauen über das weibliche Geschlecht ungebildeter Völker
erhebt. Sehn Sie, da haben die Frauen der Chinesen die häßliche Gewohn¬
heit, ihre Zehen unter die Fußsohle zu klappen und da so lauge festzubinden,
bis sie nicht mehr imstande sind, aufrecht zu gehen. Wie nun, wenn unsre
Frauen diese Sitte anch angenommen hatten, wozu wir ihnen das Recht doch
eben so wenig nehmen könnten als den Chinesinnen, wie wenn wir unsre Frauen
nicht mehr nur bildlich, sondern in Wirklichkeit auf den Händen tragen müßten!
Da verdient es doch alle Anerkennung, daß sich unsre Frauen damit begnügen,
ihre Füße in zu enge Stiefel zu pressen, deren Absatz uuter der Sohle steht
statt unter der Ferse. Freilich berauben sie sich dadurch der Möglichkeit,
frank und frei auszuschreiten, sodaß sie eine ziemlich klägliche Figur machen
neben der kräftigen Bauerndirne, die frühmorgens die Milch in die Stadt
bringt; aber in den meisten Fällen können sie sich doch ohne fremde Hilfe
fortbewegen. Also seien wir gerecht. Dann lebt da irgendwo ans einer Insel
in der Südsee ein Völkerstamm, dessen Frauen ein Vergnügen darin finden,
die Unterlippe dnrch darunter befestigte Holzstücke nach und nach so lange zu
vergrößern, bis sie einem Entenschnabel gleicht. Keine Möglichkeit für den
armen Südseeinsulaner, sein ihm ehelich verbundnes Gemahl zu küssen! Und
doch muß es ein in der weiblichen Natur tief begründeter Hang sein, einzelne
Glieder über das natürliche Maß zu vergrößern. Und wieder erkennen wir
die segensreiche Wirkung moderner Bildung darin, daß unsre Frauen ihre
Natur soweit überwinden, diesem Hang nur in der Form ihres Gewandes
nachzugeben. Sie werden sich erinnern, daß man die Vergrößerung vor
einigen Jahren auf der Rückseite anzubringen pflegte. Jetzt ist man dazu
übergegangen, die Ärmel nach oben aufzubauscheu, als säße auf beiden Schultern
ein mächtiger Hocker. Infolge dieser Verbesserung der Werke unsers Herr¬
gotts sieht es ans, als habe der Frauenarm „ die Form eines westfälischen
Schinkens, was für unsre Dichter, die einer Ästhetik auf realer Grundlage
huldigen, gewiß recht erfreulich ist. Wie ich gelesen habe, fröhnen einige
unsrer Bruderstämme dem Hang nach künstlicher Vergrößerung so weit, daß
sie ihre Weiber zu unförmlichen Fleischklumpen aufmästen, die sich gar nicht
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