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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr.

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Unsre Bildung

Herr, Sie gehören wohl zum allcrjiingsten Nachwuchs der Sozialdemokratie?
Sie meinen, zur Politik gehöre nur Gottesfurcht und fromme Sitte? Ver¬
zeihen Sie, ich habe Ihnen Unrecht gethan, Sie sind eine der besten Stützen
von Thron und Altar. Ich mochte mich zwar nicht so ganz zu Ihrer Mei¬
nung bekennen, jedenfalls muß ich Ihnen aber soweit Recht geben, daß zur
Politik heute weit weniger Bildung gehört, als vor zehn, zwanzig oder dreißig
Jahren. Die Sache ist durch die fortschreitende Klärung unsrer Parteivcrhält-
nisfe wesentlich erleichtert worden. Um Politik zu machen, haben Sie sich nur
an der Wahl eines Volksvertreters zu beteiligen; der besorgt dann das weitere
aus rein idealen Gesichtspunkten und zum besten der Gesamtheit. Diese Wahl
nun ist durchaus keine Qual, sondern etwas sehr einfaches. Es stellen sich
Ihnen da verschiedne Kandidaten vor, diese Herren fragen Sie, ob sie geneigt
seien, den und den Handelsvertrag zu bewilligen oder nicht, die und die Zölle
herabzusetzen oder nicht, und was derartige Lebensfragen des Volkes mehr
sind. Übrigens brauchen Sie nur in den seltensten Fällen selbst zu fragen,
Sie können sich in der Regel die Antwort in Druckerschwärze auf Zeitnngs-
Pnpier ins Haus tragen lassen. Je nach der Art dieser Antwort weisen Sie
die Kandidaten den beiden Klassen zu, in die Ihre Partei die deutscheu Wähler
für die Zwecke der Wahl eingeteilt hat. Je nach dem Parteistandpunkte also,
den Sie einnehmen, teilen Sie die Kandidaten ein in Reichstreue und Neichs-
feinde, oder in Christen und Atheisten, oder in Liberale und Reptile, oder in
wahres Volk und Raubtiere u. s. w. Wem Sie nach dieser Einteilung Ihre
Stimme zu geben haben, darüber werdeu Sie keinen Augenblick im Zweifel
sein. Sie sehen, dieser Sport ist so einfach, wie man nur wünschen kann.
Ob der Mann, den Sie wählen, ein Lump oder ein Ehrenmann, ein Dumm¬
kopf oder ein Genie, ein Tagedieb oder ein tüchtiger Arbeiter ist, darum
brauchen Sie sich keine Sorge zu machen. Sie können sich darauf verlassen,
daß er die Versprechungen, die er gegeben hat, um gewühlt zu werden, zum
Heile des gesamten Volkes halten wird, widrigenfalls ihn feine Partei an die
Luft setzt. Ich bin geneigt, als bewegende Kraft unsrer Bildung einen Trieb
zu radikaler Einseitigkeit anzunehmen. Habe ich Recht, so müssen nur die
politischen Parteien notwendig für die feinste Blüte unsrer Bildung erklären.
Und die feinste Blüte der deutschen Parteien, das wären dann die, die von
den Erzvätern Marx und Lassalle abstammen. Nicht etwa die große Schar
ihrer Anhänger, nein, die zählen ja nach der üblichen Einteilung nicht mit,
sondern die vierundvierzig Unsterblichen, die in Berlin ans den kurulischen
Stühlen sitzen. Diese Herren, die den Zukunftsstaat erfunden haben und ganz
genau wissen, wie man alles Elend aus der Welt schafft, das sind die charak¬
teristischen Vertreter moderner Bildung. Wie der Vaeealcmreus im zweiten
Teil des Faust, warten sie nur darauf, daß wir andern sie ersuchen, uns
freundlichst totzuschlagen, auf daß nicht länger zu verziehen brauche das
tausendjährige Reich der Auserwählten, die statt eines begehrlichen Menschen¬
herzens den'kategorischen Imperativ des seligen Immanuel Kant in der Brust
tragen. Das heißt, unter uns gesagt, ich glaube, die Herren thun uur so;
denn Znkunftsstaaten lassen sich nirgends bequemer ausklügeln, als im warmen
Nest eiues nach anßen wohlversicherten Staatswesens. Auf schwankem Grund
ein starkes Reich zu errichten, dazu gehört eine Herrenfaust, wie sie der Mann
in Friedrichsruh besaß.

Hübsch klar und übersichtlich wie die Parteiverhältnisse ist auch unsre


Unsre Bildung

Herr, Sie gehören wohl zum allcrjiingsten Nachwuchs der Sozialdemokratie?
Sie meinen, zur Politik gehöre nur Gottesfurcht und fromme Sitte? Ver¬
zeihen Sie, ich habe Ihnen Unrecht gethan, Sie sind eine der besten Stützen
von Thron und Altar. Ich mochte mich zwar nicht so ganz zu Ihrer Mei¬
nung bekennen, jedenfalls muß ich Ihnen aber soweit Recht geben, daß zur
Politik heute weit weniger Bildung gehört, als vor zehn, zwanzig oder dreißig
Jahren. Die Sache ist durch die fortschreitende Klärung unsrer Parteivcrhält-
nisfe wesentlich erleichtert worden. Um Politik zu machen, haben Sie sich nur
an der Wahl eines Volksvertreters zu beteiligen; der besorgt dann das weitere
aus rein idealen Gesichtspunkten und zum besten der Gesamtheit. Diese Wahl
nun ist durchaus keine Qual, sondern etwas sehr einfaches. Es stellen sich
Ihnen da verschiedne Kandidaten vor, diese Herren fragen Sie, ob sie geneigt
seien, den und den Handelsvertrag zu bewilligen oder nicht, die und die Zölle
herabzusetzen oder nicht, und was derartige Lebensfragen des Volkes mehr
sind. Übrigens brauchen Sie nur in den seltensten Fällen selbst zu fragen,
Sie können sich in der Regel die Antwort in Druckerschwärze auf Zeitnngs-
Pnpier ins Haus tragen lassen. Je nach der Art dieser Antwort weisen Sie
die Kandidaten den beiden Klassen zu, in die Ihre Partei die deutscheu Wähler
für die Zwecke der Wahl eingeteilt hat. Je nach dem Parteistandpunkte also,
den Sie einnehmen, teilen Sie die Kandidaten ein in Reichstreue und Neichs-
feinde, oder in Christen und Atheisten, oder in Liberale und Reptile, oder in
wahres Volk und Raubtiere u. s. w. Wem Sie nach dieser Einteilung Ihre
Stimme zu geben haben, darüber werdeu Sie keinen Augenblick im Zweifel
sein. Sie sehen, dieser Sport ist so einfach, wie man nur wünschen kann.
Ob der Mann, den Sie wählen, ein Lump oder ein Ehrenmann, ein Dumm¬
kopf oder ein Genie, ein Tagedieb oder ein tüchtiger Arbeiter ist, darum
brauchen Sie sich keine Sorge zu machen. Sie können sich darauf verlassen,
daß er die Versprechungen, die er gegeben hat, um gewühlt zu werden, zum
Heile des gesamten Volkes halten wird, widrigenfalls ihn feine Partei an die
Luft setzt. Ich bin geneigt, als bewegende Kraft unsrer Bildung einen Trieb
zu radikaler Einseitigkeit anzunehmen. Habe ich Recht, so müssen nur die
politischen Parteien notwendig für die feinste Blüte unsrer Bildung erklären.
Und die feinste Blüte der deutschen Parteien, das wären dann die, die von
den Erzvätern Marx und Lassalle abstammen. Nicht etwa die große Schar
ihrer Anhänger, nein, die zählen ja nach der üblichen Einteilung nicht mit,
sondern die vierundvierzig Unsterblichen, die in Berlin ans den kurulischen
Stühlen sitzen. Diese Herren, die den Zukunftsstaat erfunden haben und ganz
genau wissen, wie man alles Elend aus der Welt schafft, das sind die charak¬
teristischen Vertreter moderner Bildung. Wie der Vaeealcmreus im zweiten
Teil des Faust, warten sie nur darauf, daß wir andern sie ersuchen, uns
freundlichst totzuschlagen, auf daß nicht länger zu verziehen brauche das
tausendjährige Reich der Auserwählten, die statt eines begehrlichen Menschen¬
herzens den'kategorischen Imperativ des seligen Immanuel Kant in der Brust
tragen. Das heißt, unter uns gesagt, ich glaube, die Herren thun uur so;
denn Znkunftsstaaten lassen sich nirgends bequemer ausklügeln, als im warmen
Nest eiues nach anßen wohlversicherten Staatswesens. Auf schwankem Grund
ein starkes Reich zu errichten, dazu gehört eine Herrenfaust, wie sie der Mann
in Friedrichsruh besaß.

Hübsch klar und übersichtlich wie die Parteiverhältnisse ist auch unsre


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[0333] Unsre Bildung Herr, Sie gehören wohl zum allcrjiingsten Nachwuchs der Sozialdemokratie? Sie meinen, zur Politik gehöre nur Gottesfurcht und fromme Sitte? Ver¬ zeihen Sie, ich habe Ihnen Unrecht gethan, Sie sind eine der besten Stützen von Thron und Altar. Ich mochte mich zwar nicht so ganz zu Ihrer Mei¬ nung bekennen, jedenfalls muß ich Ihnen aber soweit Recht geben, daß zur Politik heute weit weniger Bildung gehört, als vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren. Die Sache ist durch die fortschreitende Klärung unsrer Parteivcrhält- nisfe wesentlich erleichtert worden. Um Politik zu machen, haben Sie sich nur an der Wahl eines Volksvertreters zu beteiligen; der besorgt dann das weitere aus rein idealen Gesichtspunkten und zum besten der Gesamtheit. Diese Wahl nun ist durchaus keine Qual, sondern etwas sehr einfaches. Es stellen sich Ihnen da verschiedne Kandidaten vor, diese Herren fragen Sie, ob sie geneigt seien, den und den Handelsvertrag zu bewilligen oder nicht, die und die Zölle herabzusetzen oder nicht, und was derartige Lebensfragen des Volkes mehr sind. Übrigens brauchen Sie nur in den seltensten Fällen selbst zu fragen, Sie können sich in der Regel die Antwort in Druckerschwärze auf Zeitnngs- Pnpier ins Haus tragen lassen. Je nach der Art dieser Antwort weisen Sie die Kandidaten den beiden Klassen zu, in die Ihre Partei die deutscheu Wähler für die Zwecke der Wahl eingeteilt hat. Je nach dem Parteistandpunkte also, den Sie einnehmen, teilen Sie die Kandidaten ein in Reichstreue und Neichs- feinde, oder in Christen und Atheisten, oder in Liberale und Reptile, oder in wahres Volk und Raubtiere u. s. w. Wem Sie nach dieser Einteilung Ihre Stimme zu geben haben, darüber werdeu Sie keinen Augenblick im Zweifel sein. Sie sehen, dieser Sport ist so einfach, wie man nur wünschen kann. Ob der Mann, den Sie wählen, ein Lump oder ein Ehrenmann, ein Dumm¬ kopf oder ein Genie, ein Tagedieb oder ein tüchtiger Arbeiter ist, darum brauchen Sie sich keine Sorge zu machen. Sie können sich darauf verlassen, daß er die Versprechungen, die er gegeben hat, um gewühlt zu werden, zum Heile des gesamten Volkes halten wird, widrigenfalls ihn feine Partei an die Luft setzt. Ich bin geneigt, als bewegende Kraft unsrer Bildung einen Trieb zu radikaler Einseitigkeit anzunehmen. Habe ich Recht, so müssen nur die politischen Parteien notwendig für die feinste Blüte unsrer Bildung erklären. Und die feinste Blüte der deutschen Parteien, das wären dann die, die von den Erzvätern Marx und Lassalle abstammen. Nicht etwa die große Schar ihrer Anhänger, nein, die zählen ja nach der üblichen Einteilung nicht mit, sondern die vierundvierzig Unsterblichen, die in Berlin ans den kurulischen Stühlen sitzen. Diese Herren, die den Zukunftsstaat erfunden haben und ganz genau wissen, wie man alles Elend aus der Welt schafft, das sind die charak¬ teristischen Vertreter moderner Bildung. Wie der Vaeealcmreus im zweiten Teil des Faust, warten sie nur darauf, daß wir andern sie ersuchen, uns freundlichst totzuschlagen, auf daß nicht länger zu verziehen brauche das tausendjährige Reich der Auserwählten, die statt eines begehrlichen Menschen¬ herzens den'kategorischen Imperativ des seligen Immanuel Kant in der Brust tragen. Das heißt, unter uns gesagt, ich glaube, die Herren thun uur so; denn Znkunftsstaaten lassen sich nirgends bequemer ausklügeln, als im warmen Nest eiues nach anßen wohlversicherten Staatswesens. Auf schwankem Grund ein starkes Reich zu errichten, dazu gehört eine Herrenfaust, wie sie der Mann in Friedrichsruh besaß. Hübsch klar und übersichtlich wie die Parteiverhältnisse ist auch unsre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_215089/333>, abgerufen am 24.11.2024.